Der Verein der FREUNDE der THEOLOGISCHEN KURSE sieht es als seine Aufgabe, die THEOLOGISCHEN KURSE in ihrer Arbeit zu unterstützen.
Dem Fach "Altes Testament" begegnen Zuhörende sehr oft mit einer großen Portion Skepsis: Warum muss ich mich mit so einem alten, schwierigen, gewalthaltigen und dunklen Text wie dem Alten Testament überhaupt auseinandersetzen? Es lohnt, sich hierzu eine der einschlägigen Äußerungen Jesu in Erinnerung zu rufen. Im Sondergut des Lukas wird die Erzählung Jesu vom armen Lazarus überliefert, der im Hades von einem Reichen erspäht wird, vor dessen Tür er zu seinen Lebzeiten liegen musste. Im Gespräch mit Abraham, in dessen Schoß der arme Lazarus ruht, bittet der Reiche den Patriarchen, Lazarus zu seinen Brüdern zu schicken, damit sie nicht in die gleiche Situation gerieten wie er. Abrahams Antwort: „Sie haben Mose und die Propheten, auf die sollen sie hören.“ (Lk 16,29) Als der Reiche insistiert, schließt die Erzählung mit dieser Aussage Abrahams: „Wenn sie auf Mose und die Propheten nicht hören, werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn einer von den Toten aufersteht.“ (Lk 16,31)
Spannend ist dabei vor allem die Auslegungsgeschichte dieser jesuanischen Erzählung. Ursprünglich von Lukas verwendet, um die bleibende Gültigkeit der Bibel Israels nach Ostern festzuschreiben, wurde sie im Lauf der Zeit als eine Reportage über die Zustände im Jenseits verstanden. Dankbar griff Friedrich Nietzsche die daraus folgende Auslegung auf: „Denn was ist die Seligkeit jenes Paradieses? […] Wir würden es vielleicht schon errathen; aber besser ist es, dass es uns eine in solchen Dingen nicht zu unterschätzende Autorität ausdrücklich bezeugt, Thomas von Aquino, der grosse Lehrer und Heilige. ‚Die Seligen im Himmelreich‘, sagt er sanft wie ein Lamm, ‚werden die Strafen der Verdammten sehen, damit ihre Seligkeit noch angenehmer sei‘ .“ Ohne Bezug auf das Alte Testament drohen bei neutestamentlichen Texten offensichtlich gravierende Missverständnisse. Was aber sind die zentralen inhaltlichen Punkte des Alten Testamentes?
Eine der wesentlichen theologischen Errungenschaften der alttestamentlichen Schriften ist das Konzept des Bundes, den JHWH mit seinem Volk Israel schließt. Im Moment der katastrophalen Bedrohung durch die brutale Großmacht Assyrien wird für uns historisch erstmals diese weitreichende Vorstellung greifbar, dass der biblische Gott die Menschen nicht im Stich lässt, mit denen ER sich verbunden hat. Dieses Bundesverständnis musste sich bereits im 8. Jh. v. Chr. schwersten Herausforderungen stellen. Es waren gerade die konkreten geschichtlichen Erfahrungen, die Israel erkennen ließen, dass es im Rückgriff auf den von Gott gewährten Bund immer noch eine Zukunft hat.
Besonders in den Momenten des scheinbar totalen Scheiterns – Untergang des Zentralheiligtums, Verlust des davidischen Königtums, Deportation der Oberschicht nach Babylon – machte Israel die Erfahrung, dass Gott auch an dann an seinem Bund festhält, wenn die menschlichen Bundespartner ihn nicht einhielten. „Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt“ (Röm 11,29). Wie zentral diese Einsicht ist, zeigt heute noch die Struktur, die die Tora nach dem Exil gefunden hat: In ihrem Zentrum steht das Buch Levitikus, in dessen Mitte der große Versöhnungstag (Jom Kippur) geschildert wird: ein inmitten seines Volkes erfahrbarer, vergebender Gott.
Was die im Alten Testament bezeugten Gotteserfahrungen bis heute so eindrucksvoll macht, ist ihre Aktualisierungsfähigkeit. In der Katastrophe des babylonischen Exils besann man sich auf die wohl ursprünglich im Nordreich überlieferte Exodus-Tradition: JHWH ist in der Lage, sein Volk aus der Gefangenschaft in einer hoch überlegenen fremden Zivilisation zu befreien, ohne dass das Volk kämpfen muss. Angeführt von Mose, findet es trotz aller Schwierigkeiten den Weg in das den Erzeltern versprochene Land. Diese Erfahrung aktualisierte sich nachexilisch, als nach dem Machtantritt der Perser Teile der Deportierten aus Babylon nach Jehud zurückkehrten, und der Mann Mose, mit der Tora zum Buch geworden (wie der Regensburger Alttestamentler Christoph Dohmen formulierte), gleichsam ihr Anführer war.
Heute können wir auf Grund der uns zur Verfügung stehenden Quellen verstehen, wie sehr diese spezifischen theologischen Reflexionen und Deutungen der Gotteserfahrung Israels von Propheten und weisheitlichen Traditionen geprägt worden sind. Von den vorschriftlichen Propheten Elija und Elischa über die königskritischen Persönlichkeiten Jesaja und Jeremia und dem „Vater der priesterschriftlichen Theologie“, Ezechiel bis in die nachexilische Zeit hinein messen diese Propheten die Gegenwart des Gottesvolkes kritisch am Standard des Gottesbundes: Weder König noch Kult werden von ihnen verschont, wenn es um die Treue zum erfahrenen Gotteswillen geht.
Eingebettet in die altorientalische Umwelt spielt die Weisheit als lebenspraktische Bewältigung des Alltags eine erhebliche Rolle. Wahrscheinlich waren die Verfasser der alttestamentlichen Texte alle durch eine weisheitlich geprägte Ausbildung gegangen. An der Frage des Leides und seiner Bewältigung ist auch der intensive weisheitliche Lernprozess des Gottesvolkes erkennbar: das Ringen um eine Antwort reicht von den zerbrechenden Versuchen, diese Frage im Sinn eines „Tun-Ergehen-Zusammenhangs“ zu lösen, bis zu den vielstimmigen und existentiell glaubwürdigen Aussagen des Buches Ijob.
Im Verlauf der Entstehungsgeschichte der alttestamentlichen Texte kommt es zu erstaunlichen Reflexionen über die Nähe Gottes zu den Menschen. Die vor der Schöpfung bereits existierende Weisheit Gottes (Spr 8), die mit der Tora identifiziert wird (Sir 24), nimmt Wohnung bei den Menschen: meine Freude war es, bei den Menschen zu sein (Spr 8,31). Diese „Wohngemeinschaft“ mit Gott hat existentielle Folgen für die beteiligten Menschen: „Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig“ (Lev 19,2). Jesus wird sich diese Forderung nicht nur zu eigen machen (Mt 5,48), sondern seine Anhänger und Anhängerinnen werden ihn mit Gottes Weisheit (1 Kor 1,24) und dem schöpferischen Gotteswort identifizieren, „das unter uns gewohnt hat“ (Joh 1,14).
Ohne Kenntnis des AT gibt es kein Verständnis des NT. Erinnert sei an das bekannte Wort des Hieronymus: Die Schrift nicht kennen, heißt Christus nicht kennen. Mit „die Schrift“ ist – wie schon im NT – das AT gemeint. Gleichzeitig werden die Texte des NT in christlicher Perspektive im Licht der Auferstehung Jesu gelesen, wie es in der Feier der Osternacht geschieht. Die Einheit der einen Heiligen Schrift aus den beiden Testamenten ist die grundlegende Bezeugung der Offenbarung Gottes im Christentum.
Dabei ist es die Aufgabe der alttestamentlichen Wissenschaft, das Bleibende und Gültige des im AT bezeugten Gotteswortes herauszuarbeiten. Sie wird dabei herausstellen, dass „Erfüllung“ nicht Aufhebung, sondern Bewahrheitung und Bewährung meint. Das AT ist in Jesus nicht aufgehoben (Mt 5,17–18; Joh 10,35 ), sondern seine Botschaft bewahrheitet sich in ihm. Die Osterbotschaft ist also nur „gemäß der Schrift“ zu verstehen (1 Kor 15,3–4).
Das Fach AT versucht, die Theologie vor dem Rückfall in antijudaistische Stereotype zu bewahren, die leider jahrhundertelang die christliche Bibelauslegung geprägt haben. Allzu oft wird auch heute noch das AT als dunkle Hintergrundfolie missbraucht, vor dem das umso hellere Licht des NT erstrahlen soll. Dies steht übrigens im Widerspruch zu der fundamentalen Einsicht der Alten Kirche, am AT als Wort Gottes festhalten zu müssen. Angebliche Antagonismen von „Gesetz“ gegen „Evangelium“, „Geist“ gegen „Buchstabe“ oder „Gesetzesfrömmigkeit“ gegen „Gnade“ werden tatsächlich heute noch bemüht, obwohl sie exegetisch nicht haltbar sind.
Dabei muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass der Umgang mit den alttestamentlichen Texten in der liturgischen Leseordnung diese Aufgabe nicht gerade erleichtert. Wenn etwa die hochkomplexe Frage nach dem „Aussatz“, für dessen Behandlung das Buch Levitikus zwei volle Kapitel benötigt, zu einer Lesung bestehend aus den Versen Lev 13,1–2.43ac.44ab.45–46 zusammengestückelt wird, dann kann das AT im Gottesdienst nur verlieren.
Ein weiterer Dienst des Faches AT an der Theologie besteht in der beständigen Erinnerung an die Lebensrelevanz der Gottesbeziehung. Hier ist das AT mit seiner Frage nach der æmunā – der Treue und Wahrhaftigkeit im Alltag – ein wichtiges Korrektiv für eine Theologie, die in Gefahr läuft, sich mit schönen Bekenntnissätzen zu begnügen oder einem „übermäßig spiritualisierten Erlösungsverständnis“ zu huldigen.
In Bezug auf die oft gestellte Frage, warum im AT das Thema Gewalt so häufig thematisiert wird, kann eine genaue Analyse der gewalthaltigen Texte und ihrer historischen Hintergründe aufzeigen, dass es sich bei der Erfahrung von Gewalt um ein zentrales menschliches Problem handelt, zu dem die Gottesrede nicht schweigen kann. Gerade als Opfer brutaler Gewalt hat Israel etwas zu dieser Thematik zu sagen – ohne dass man dabei jede Erzählung als Reportage oder gar als Handlungsaufforderung lesen darf. Wenn so verständlich gemacht werden kann, warum ein Thema in der Schrift aufgegriffen wurde, ist man einem echten Verständnis schon einen großen Schritt näher gekommen.
Darin besteht also das große Angebot des Alten Testamentes: von authentischen menschlichen Gotteserfahrungen zu lernen, wie der gemeinsame Glaube an den biblischen Gott eine Gemeinschaft und schließlich eine ganze Gesellschaft prägen kann. Wenn es gelingt, diese Relevanz zu zeigen, bestätigt sich das Wort des Apostels: „Und alles, was einst geschrieben worden ist, ist zu unserer Belehrung geschrieben, damit wir durch Geduld und durch den Trost der Schrift Hoffnung haben.“ (Röm 15,4) – Diese Aktualisierungsfähigkeit macht bis heute und auch weiterhin das enorme Potential des Alten Testamentes aus.
Mag. Oliver ACHILLES, geb. 1964, hat in Bonn, Tübingen und Wien Katholische Theologie studiert und war fast 20 Jahre lang als Pastoral- und Pfarrassistent in der Erzdiözese Wien tätig. Seit 2008 lehrt er als wissenschaftlicher Assistent bei den THEOLOGISCHEN KURSEN Altes und Neues Testament. Als dem Bibliker im Team geht es ihm um eine Auslegung der Heiligen Schrift "die Gottes würdig ist" (Origenes) - und sich im Leben bewähren kann. Oliver Achilles betreibt einen Blog zum Thema Bibelauslegung.
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