"Ich vermisse Geduld, Zuhörfähigkeit und Kompromissbereitschaft"
Herr Bischof, das Herz ist Ihnen ein wichtiges Anliegen – man sieht es in Ihrer Kunst ebenso wie in Ihrer Publikation und Ihrem gleichnamigen Vortrag bei den THEOLOGISCHEN KURSEN, "Dein Herz ist gefragt". Warum ist Ihnen das Herz so wichtig – wo doch (im Glauben wie im gesellschaftlichen Diskus) die Vernunft/Verstand bzw. der Logos so betont wird?
Das ist kein Widerspruch. Herzlose Personen sind letztlich auch nicht vernünftig. Das Herz des Menschen – und damit meinen wir natürlich nicht nur den phantastischen Herzmuskel mit seiner lebenslangen Spitzenleistung – ist weltweit in fast allen Kulturen der Sitz der Weisheit. Wissen und Gewissen kommen dort zusammen. Die riesigen Daten- und Informationsmengen heutiger Kommunikation, beschleunigt durch KI, treiben uns in eine permanente Überforderung. Verlust von Orientierung und Sinn. Eine rein intellektuelle Aufklärung greift nicht, es braucht Begegnungen und eine emotionale Berührung, um Unrecht wahrzunehmen und für fremdes Leid empfindsam zu werden. Im Herzen des Menschen fallen jedenfalls die Grundentscheidungen.
Das Herz – so könnte man einwenden – ist der Ort des Entflammens für alles Mögliche und Unmögliche; die Vernunft dagegen ist der Ort des ausgewogenen, argumentativ abgesicherten Wollens. Was antworten Sie auf diesen Einwand?
Vorsicht, vernunftbegabte Menschen können ebenso Terror und Ausbeutung organisieren wie unaufgeklärte Idioten. Wenn ein nervöses, von Gier oder von Ängsten getriebenes Herz seine eigenwilligen Entscheidungen trifft, kommt keine rein vernunftgesteuerte Argumentation dagegen an. Das Wollen kommt aus dem Herzen. Es liegt nicht zufällig genau in der Mitte zwischen Bauch und Hirn. Das Herz ist der unbedingt notwendige Resonanzraum, damit wir uns selbst als freiheitsliebende Wesen und die Welt in ihrer Komplexität wahrnehmen können. Die Herzqualität von uns Menschen besteht darin, dass wir einem Du, einem konkreten Nächsten, und einem Wir in uns Raum und Stimme geben können.
"Es geht auch um eine Herzqualität einer Gesellschaft, um Strukturen, die zugunsten von mehr Teilhabe und Inklusion zu verändern sind. In allen gesellschaftlichen Institutionen, Unternehmen und Einrichtungen sind Menschen mit Herz gefragt, die Verantwortung übernehmen."
Wenn Sie das Herz stark machen, bedeutet das ja auch, dass Sie etwas in der gegenwärtigen Debatte vermissen, oder?
Ich vermisse Geduld, Zuhörfähigkeit und Kompromissbereitschaft. Wir müssen uns doch das Leben immer wieder neu gut ausverhandeln – und allen Mitgliedern einer Gesellschaft Teilhabe ermöglichen. Gerade heute, am Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus und der Beendigung des Zweiten Weltkrieges, müssen wir das Thema einer ganzheitlichen Herzensbildung aufgreifen. Da geht es um historisches Wissen und zugleich die Vermittlung von Werten und das Einüben von Haltungen. Die radikalen, gefährlich undifferenzierten Stimmen, Hass und Verhetzung dürfen doch nicht unwidersprochen bleiben. Und wir dürfen in unser beschleunigten, zunehmend digitalisierten Welt nicht menschlich auf der Strecke bleiben. Das ist keine falsche Romantik oder Träumerei.
Das Herz ist etwas "Individuelles"– es schlägt in jedem Lebewesen. Wenn dies der Ort der Besinnung ist, auf den es ankommt: Wie kommt dann der Nächste / der andere / die anderen hinein? – Oder etwas gesellschaftskritischer gewendet: Überhöht die Fokussierung auf den individuellen Herzschlag nicht die individuelle Verantwortung (etwa für die Klimakrise bzw. für die Bearbeitung der gesellschaftlichen Muli-Krisen) – und lässt dies nicht die Verantwortung der großen "Player" (die – um im Bild zu bleiben – gleichsam "herzlos" sind) wie Staaten/Wirtschaftsunternehmen/Kapitalströme außen vor?
Ich versuche in meinem Buch genau diese Spannung zu thematisieren. Ja, es geht um den individuellen Herzschlag, um das Plus an Menschlichkeit und solidarischer Verbundenheit, zu der jeder von uns fähig aufgerufen ist – ganz nach dem Motto: Dein Herz ist gefragt! Aber es geht auch um eine Herzqualität einer Gesellschaft, um Strukturen, die zugunsten von mehr Teilhabe und Inklusion zu verändern sind. In allen gesellschaftlichen Institutionen, Unternehmen und Einrichtungen sind Menschen mit Herz gefragt, die Verantwortung übernehmen. Herzhaft entscheiden ist keine Gefühlsduselei. Eine echte Herz-Spiritualität im Sinne des jesuanischen Evangeliums hat gesellschaftspolitische Auswirkungen.
Bis Ende Juni sind noch Fotografien von Ihnen unter dem Titel "This is My Body" in den Räumen der THEOLOGISCHEN KURSE zu sehen. Es sind Werke aus zwei Jahren Ukraine-Krieg, die ihren Fokuspunkt bewusst mit unscharf verfremden. Was war Ihr Antrieb zu diesen Bildern? Und warum die Verfremdung?
Die gezielt eingesetzte Verfremdung regt ein genaueres Hinschauen an und bewahrt zugleich vor der Falle einer voyeuristischen Vermarktung des Grauens. Es ist keine künstlerisch verbrämte Kriegsberichterstattung. Ich verwende ausschließlich vorgefundenes Bildmaterial, wie wir es in diversen Nachrichtensendungen ins Haus geliefert bekommen. Der Titel der Serie "This is My Body" zeigt an, dass wir alle letztlich mitbetroffen sind. Jeder Krieg ist eine Niederlage der ganzen Menschheit, wie es Papst Johannes Paul II. formuliert hat. Und jeder entwürdigte, ausgebeutete und geschundene Mensch ist auch der Leib Jesu. Diese Radikalität von Gottes Inkarnation in unser Menschsein, wie es am deutlichsten in der Gerichtsrede im Kapitel 25 des Matthäusevangeliums ausgedrückt wird, übersehen wir sehr schnell.
"Kunst widersetzt sich in jedem Fall einer 'globalisierten Gleichgültigkeit' - also dem gefährlichen Gewöhnungseffekt. Sie zeigt auf, demaskiert und ermutigt zum Widerspruch. Kunst ist das trotzige Nicht-Einverständnis mit jeder Form der Entwürdigung des Menschen."
Welchen "Wert", welche "Funktion" hat Kunst überhaupt bei der Auseinandersetzung mit so etwas wie einem kühl kalkulierten Krieg? Sie macht Opfer nicht mehr lebendig – und wird von den Verantwortlichen, die sie adressiert, vielleicht gar nicht gesehen bzw. wahrgenommen…
Kunst ist eine geistige Kraft, die ungeahnte Potentiale freilegen kann. Vor allem weckt sie in uns die Fähigkeit zur Empathie, unser "solidarisches Bewusstsein", wenn man so will. Sie hält die Utopie aufrecht, dass wir uns doch als Menschen menschlich begegnen müssen. Kunst ist zumindest der Versuch einer Notwehr, um das Bedrohliche und Dämonische des Krieges zu benennen – und damit ein Stück weit zu brechen. Kunst widersetzt sich in jedem Fall einer "globalisierten Gleichgültigkeit" – also dem gefährlichen Gewöhnungseffekt. Sie zeigt auf, demaskiert und ermutigt zum Widerspruch. Kunst ist das trotzige Nicht-Einverständnis mit jeder Form der Entwürdigung des Menschen. Letztlich ist sie aber auch ohnmächtig und kann ideologisch instrumentalisiert werden – gleich wie jede Religion.
Gespräch mit Bischof Glettler zu seiner Ausstellung "This is My Body" am 8. Mai 2024 in Wien.
Aus europäischer Sicht mag es leicht erscheinen, sich aus christlicher kirchlicher Sicht mit den Opfern auf ukrainischer Seite zu solidarisieren – aber welche Rolle kann die (Katholische) Kirche tatsächlich spielen in einem kriegerischen Konflikt, in dem die Solidarität mit den Opfern offenbar kein Generalanliegen ist, sondern in dem etwa die orthodoxe Kirche (des russischen Patriarchats) auf eine gar kriegstreibende Rhetorik und Argumentationsstruktur eingestiegen ist?
Einer der ganz großen Skandale in diesem verheerenden Krieg ist tatsächlich die Rolle der russisch-orthodoxen Kirche. Es ist eine Schande, dass sich der Moskauer Patriarch zum vielleicht wichtigsten Kriegsgehilfen von Putin gemacht hat. Selbst jetzt, nach seiner Wiederwahl, hat er ihn als "Hoheit" betitelt und hofiert. Kyrill I., bekanntlich ehemaliger KGB-Agent, verrät damit die Grundbotschaft des Evangeliums und des Christentums und lädt eine enorme Schuld auf sich und auf alle, die ihm unterstellt sind. Ich hoffe, dass die russisch-orthodoxen Gläubigen dieses politische Vereinnahmt-Werden durchschauen und sich hoffentlich bald dagegen stellen. Und zum ersten Teil Ihrer Frage: Ganz tief verbunden sind wir natürlich mit der griechisch-katholischen Kirche in der Ukraine. In Innsbruck gibt es bereits seit 125 Jahren eine ukrainische Gemeinde. Von den 27 ukrainischen Märtyrern aus der stalinistischen und nationalsozialistischen Zeit haben einige in Innsbruck studiert. Aktuell gibt es auf kirchlicher Ebene viel Austausch und diverse Hilfsprojekte, um der ukrainischen Bevölkerung im humanitären Desaster dieses Krieges ein wenig beizustehen.
Wenn Sie die Ausstellung heute fortschreiben würden mit weiteren Bildern – würde sie "anders" sein? Würde ihre Kunst das Leiden z.B. "plakativer" und weniger verfremdet zeigen?
Nein, ich setze diese behutsame, ehrliche Annäherung in dieser Weise fort. Andere Kunstschaffende werden vermutlich andere Strategien entwickeln. Auf keinen Fall sollten wir uns zu plakativen Vereinfachungen hinreißen lassen. Kunst muss die Achtsamkeit schulen und jeder Banalisierung oder Vereinnahmung trotzen.
Zur Person:
Hermann GLETTLER hat Katholische Theologie und Kunstgeschichte studiert. 1991 als Diözesanpriester (Graz-Seckau) ordiniert und 2016 zum Bischofsvikar für die Bereiche Caritas und Neuevangelisierung ernannt, verbindet er sein Leben als Geistlicher mit leidenschaftlichem und bisweilen provokantem Engagement für die Förderung und Vermittlung insbesondere zeitgenössischer Kunst – nicht zuletzt zur zeitgemäßen Verlebendigung der fremdgewordenen Herz-Jesu- Spiritualität jenseits von Pathos und Kitsch. Seit 2017 ist Hermann Glettler Bischof der Diözese Innsbruck.
Buch zum Thema: H. Glettler, Dein Herz ist gefragt. Spirituelle Orientierung in nervöser Zeit, Freiburg i.Br. u.a. 2022.