Journalist Lendvai und Philosoph Schelkshorn analysieren nationalistische Gefahr für Europa
Wien, 9. November 2023 | Der wieder erstarkende Nationalismus in Europa ist "die größte Gefahr für Freiheit und Demokratie": Das hat der Publizist und politische Kommentator Paul Lendvai am Mittwochabend (8. November) bei einem Vortrag in der "Akademie am Dom" in Wien betont. Der Nationalismus, für den Staaten wie Russland, Ungarn oder die Türkei Anschauungsobjekte böten, sei "die stärkste und zugleich am meisten unterschätzte Ideologie" und dürfe nicht mit Patriotismus verwechselt werden. "Der Patriot verteidigt etwas, der Nationalist will etwas", so Lendvai. Sein "Janusgesicht" bestehe darin, dass sich unter dem Label Nationalismus viele verschiedene Interessen verbergen könnten - von persönlich-wirtschaftlichen über pure Machtinteressen bis hin zu einem überzogenen Vaterlandsbewusstsein.
Lendvai zeichnete in seinem Vortrag die verschiedenen Formen und Ausprägungen nationalistischer Ideologien seit dem Ersten Weltkrieg in Europa nach. Immer wieder sei der Nationalismus in Krisenzeiten aufgestiegen, indem er das verlockende Angebot einer "Retrotopia" (Utopie der Wiederherstellung eines verklärten früheren Status quo) mache, so Lendvai unter Berufung auf das gleichnamige, posthum erschienene Buch des Soziologen Zygmunt Bauman.
Lendvai: Österreich hat mit Politikern "mehrmals Glück gehabt"
Die konkrete Gefahr bestehe nun darin, dass ein solcher Nationalismus letztlich immer in Konflikte und schlussendlich in Krieg münde - "weil er den Vorrang des Nationalen gegenüber allem anderen postuliert" und zudem skrupullose Persönlichkeiten an die Macht verhelfe. Auch in Österreich sei mit dem Erstarken der FPÖ allen politischen Skandalen zum Trotz diese Gefahr eine reale - wenngleich Lendvai zugleich einräumte, dass Österreich im 20. Jahrhundert "mehrmals Glück gehabt hat mit seinen politischen Persönlichkeiten". Als Beispiele nannte er Bruno Kreisky und Josef Klaus.
Zugleich aber wisse Geschichte auch immer wieder positiv zu überraschen - war doch etwa 1989 und der Fall des Eisernen Vorhangs bzw. das Ende der Sowjetunion von keinem Beobachter oder Forschungsinstitut vorhergesagt worden. Doch es gelte bei all dem die Wachsamkeit nicht zu verlieren. Man dürfe nicht wie ein "Schlafwandler" den Verlockungen der Nationalisten erliegen - die erreichten Grade an Freiheit wie Reisefreiheit oder auch die Wahlfreiheit müssten unbedingt verteidigt werden.
Schelkshorn: Christentum ist Feind der Neuen Rechten
Im Anschluss replizierte der Wiener Philosoph Prof. Johann Schelkshorn auf Lendvais Vortrag und legte unter Verweis auf den französischen Philosophen und Vordenker der Neuen Rechten, Alain de Benoist, offen, worin der ideologische Kern des Nationalismus liegt. So setze sich der Rechtspopulismus und Nationalismus in zwei entscheidenden Punkten vom früheren, faschistisch geprägten Nationalismus ab: in der Frage des Rassismus und der Form politischer Veränderung. Anstelle eines offenen Rassismus verfolge der auf Benoist zurückgehende Nationalismus einen "Ethnopluralismus", in dem Ethnien in ihren jeweiligen Kulturkreisen existieren - und anstelle eines revolutionären Umsturzes zielten heutige rechte Parteien auf einen langsamen Umbau der Demokratie.
Die Gefährlichkeit des neuen Nationalismus zeige sich dabei vor allem im Modell des Ethnopluralismus - denn dieses wirke nur auf den ersten Blick liberal und modern; tatsächlich gehe damit etwa eine Einschränkung der Menschenrechte auf nur spezielle ethnische Gruppen und eine Verschärfung der Asylpolitik einher. Gerade die Universalität der Menschenrechte sei daher dem neuen rechten Nationalismus ein Dorn im Auge - und damit auch die Botschaft des Christentums von der Gleichheit aller Menschen, so Schelkshorn. "Das Christentum hat die Gleichheit aller Menschen proklamiert und einen radikalen Individualismus gebracht: Jeder Einzelne ist Geschöpf Gottes und hat Würde. Dadurch wird eine ethnische Gemeinschaft, wie sie den Rechten vorschwebt, infrage gestellt."
In Ungarn sei der gesellschaftliche Umbau nach diesen Grundzügen bereits im Gange - in Österreich bestehe in Form der erstarkenden FPÖ und ihrer Asylpolitik ebenfalls diese Gefahr, konstatierte der Philosoph. Entsprechend seien auch die christlichen Kirchen gefordert, ihre Nähe zur Politik kritisch zu analysieren.