Jüdischer Historiker Zimmermann hält weiterhin an Zweistaatenlösung fest
Wien, 16. November 2023 | Der jüdische Historiker Moshe Zimmermann hält weiterhin an der Zweistaatenlösung für den Nahostkonflikt fest. Solange es zwei Nationen auf dem Gebiet Palästinas bzw. Israels gibt, die Ansprüche auf einen eigenen Staat erheben, bleibt dies die beste Lösung des Konflikts, sagte Zimmermann am Mittwochabend bei einem Online-Vortrag der Wiener "Akademie am Dom" in einer Zuschaltung aus Tel Aviv. Eine Lösung unter beidseitiger Anerkennung der staatlichen Autonomie, wie vom UN-Teilungsplan von 1947 vorgesehen, vom Osloer Abkommen 1993 bestätigt und bis zum Scheitern der Gespräche 2014 fortgeführt, sei der erste Schritt zur nachhaltigen Friedenssicherung.
Der Abend, der eine Kooperation gemeinsam mit der Katholischen Akademie in Dresden und der Paulus-Akademie in Zürich darstellte, stand unter dem Titel "Israels 9/11 - Ursachen und Folgen" und wurde von über 100 Teilnehmenden verfolgt.
Gleichwohl bleibe der Nahe Osten ein Vielvölkergemisch, d.h. auch bei einer solchen Lösung würde es weiterhin auch in Israel lebenden Palästinenser und in Palästina lebende Israelis geben - dies sei kein Problem, sondern, im Gegenteil, der zweite Schritt zur Friedenssicherung: die Einübung einer friedlichen Koexistenz. "Derzeit werde ich für solche Aussagen in Israel ausgelacht", räumte Zimmermann ein - aber es brauche solche "Spinnereien", um nicht das Ziel - den Frieden - aus den Augen zu verlieren angesichts der aktuellen kriegerischen Eskalation des Konflikts. "Und wenn man es konsequent zu Ende denkt, bleibt nur dies als Lösung übrig" - eine Lösung indes, die zahlreiche flankierende Maßnahmen auch im Bildungs- und Erziehungsbereich erforderliche machte, um Vorurteile und Ängste langfristig auszuräumen.
"Ich halte diese Regierung für völlig inkompetent"
Neben dem Krieg sei ein weiterer Faktor, warum diese Lösung nicht konsequent verfolgt werde, die aktuelle israelische Regierung, so Zimmermann weiter. Unter Benjamin Netanjahu sei die Zweistaatenlösung letztlich nicht umsetzbar, da er mit der aggressiven rechten Siedlungspolitik andere Ziele verfolge. "Ich halte diese Regierung für völlig inkompetent. Sie hat auch keine Visionen und Pläne, wie es nach dem Krieg weitergehen könnte. Und mit dieser Meinung bin ich nicht allein." Die israelische Gesellschaft sei weiterhin tief gespalten - der Krieg habe sie aktuell nur unter der Parole "Gemeinsam siegen wir" zusammengeführt, doch seien die Gräben weiterhin unübersehbar.
Überhaupt sei die Welt "deutlich komplexer geworden als noch 1990", als die Frontstellungen zwischen Ost und West klar waren und die autoritären Regime am Ende schienen. Heute habe sich dies umgekehrt und die liberalen Demokratien gerieten zusehends in Bedrängnis. Auch die Entscheidung der Hamas zum tödlichen Angriff auf Israel am 7. Oktober müsse vor diesem Hintergrund gesehen werden: Vor 30 Jahren schien mit den Osloer Friedensverträgen ein Frieden greifbar und stand der Nahostkonflikt auf der politischen Agenda weit oben. In den letzten Jahren hätten sich nicht einmal mehr die arabischen Nachbarstaaten an der Palästina-Frage interessiert gezeigt.
Zimmermann: "Was am 7. Oktober geschah, war aus Sicht der Hamas so etwas wie ein Befreiungsschlag: Denn die Palästinenser stehen fassungslos vor der Frage, wie es sein kann, dass ihr Wunsch nach einem eigenen Staat und nach einem Ende der Siedlungspolitik nicht einmal von den arabischen Bruderländern mehr verfolgt wird." Das politische Schweigen zum schwelenden Konflikt und die Schwäche der Autonomiebehörde in Ramallah hätten daher zur "Stunde der Terroristen" geführt.