Entschieden anders? Überlegungen zu einer Anthropozentrismus-kritischen Theologie des Lebens
Anthropos – Anthropozentrismus – Anthropozän: Eine komplizierte Gemengelage
Unabhängig davon, ob wir uns affirmativ oder kritisch auf die Begriffe des Anthropozentrismus oder des Anthropozäns beziehen, mit ihnen nehmen wir Bezug auf eine nicht nur gemeinte, sondern reale Wirklichkeit. Die Kontingenz des Anthropos [griech. Mensch, Menschengeschlecht, Menschheit, Red.] findet dabei im Begriff des Anthropozentrismus Ausdruck. Ein fehlgeleiteter Anthropozentrismus wiederum zeigt sich im Anthropozän. Anthropozän beschreibt eine Wirklichkeit, die sich nicht ohne Weiteres hätte ergeben müssen, die also in einer kontingenten Relation zum Anthropos und zum Anthropozentrismus steht. Während die Existenz des Anthropos also nicht zwangsläufig zu einem Anthropozentrismus, geschweige denn zum Anthropozän hätte führen müssen, gilt umgekehrt: Ohne Anthropos kein Anthropozentrismus und ohne Anthropozentrismus kein Anthropozän.
Im Folgenden möchte ich ausgehend von dem den gegenwärtigen Wissenschaftsdiskurs prägenden Begriff des Anthropozäns die Komplexität des Anthropozentrismus verdeutlichen, womit ich immer wieder auch nach dem Anthropos des Anthropozentrismus frage. In diese Ausführungen webe ich meine Gedanken zu einer Anthropozentrismus-kritischen Theologie ein und führe Überlegungen zu einer entschieden anderen Theologie an.
Ein geologischer Begriff mit sozialgeschichtlicher Note
Es war der niederländische Meteorologe und Nobelpreisträger Paul J. Crutzen, der im Jahr 2010 den Begriff vom „Anthropocene“ einführte. Zur Beschreibung der Lebenswirklichkeit aus schöpfungstheologischer oder anthropologischer Perspektive eignet sich der Begriff des Anthropozäns aber nur bedingt, handelt es sich hierbei doch in erster Linie um eine geologische Beschreibung der Situation unseres Planeten. Was damit gemeint ist, ist hinlänglich bekannt: Der Tipping Point ist erreicht. Die Menschheit hat den Planeten Erde solch gravierenden Veränderungen unterzogen hat, dass diese nicht mehr rückgängig zu machen sind. „Menschen“ zählen zu den gravierendsten Einflussfaktoren auf die planetarischen Sphären. Ob es sich dabei um eine Errungenschaft oder einen katastrophalen Zustand handelt, sei zunächst dahingestellt. Der wissenschaftliche Diskurs nennt als Beginn des Anthropozäns entweder die beginnende Industrielle Revolution Ende des 18. Jahrhunderts (Dampfmaschine, James Watt) oder aber den Abwurf der Atombombe auf Hiroshima 1945. Damit habe sich „die Menschheit“ von einem als „Holozän“ benannten Zeitalter gelöst, in dem sie sich selbst (noch) als Teil des lebendigen Ganzen begriff und nicht zum „geologischen Faktor“ wurde. Mittlerweile stehen mehrere Begriffe dem des „Anthropozäns“ gegenüber, die ausdrücken möchten, dass es längst nicht mehr der Mensch und vor allem nicht „die Menschheit“ sei, die die Wirklichkeit unumkehrbar präge bzw. auf diese einwirke, sondern etwa das Kapital (Kapitalozän), Europa (Eurozän), der technologische Fortschritt {Technozän) oder etwa die Angst aller vor dem Menschen (Phobozän). Hier geht es also darum, bestimmte Personengruppen, soziale Wirklichkeiten oder Regionen (Globaler Norden) als Verursacher*innen von knappen ökologischen Ressourcen, Versauerung der Meere, Artensterben und Klimawandel auszumachen – wie es etwa Papst Franziskus in seiner Enzyklika Laudato si’ unternimmt.
Die Religionspädagogin Katrin Bederna hält den Begriff „Anthropozän“ als einen theologischen Zugang zur Wirklichkeit allerdings für ungeeignet. Neben der bereits erwähnten Tatsache, dass es sich hierbei (1) um einen primär geologischen (und nicht etwa sozialen oder ökologischen) Begriff handelt, nennt sie zwei weitere Gründe: (2) Der Bezug zur „Menschheit“ erfolge zu undifferenziert, so, als ob es sich hierbei um ein „Gesamtsubjekt“ handle. (3) Außerdem vermittle „Anthropozän“ den Eindruck, als könne „die Menschheit“ die Wirklichkeit gänzlich beherrschen. Gerade der letztgenannte Punkt erweist sich spätestens in der aktuellen pandemischen Situation als Illusion.
Dennoch: Obgleich „Anthropozän“ als ein kategorialer Begriff zur Beschreibung einer geologischen Situation begann, hält er mittlerweile zur Beschreibung unserer Gesamtwirklichkeit her, und umfasst damit, so meine These, längst auch unsere soziale Wirklichkeit. Letztlich sind „Ereignisse“ wie Hiroshima keine rein geologischen Phänomene, sondern müssen zuvorderst als das verstanden werden, was sie sind: Ausdruck von Gewalt, Macht, Vorherrschaft, Kolonialismus, Patriarchat und ja - auch technologischem Fortschritt. Anthropozän steht für Vernichtung – für (die sechste) Auslöschung.1 Beschrieben wird also eine Katastrophe, ein Ökozid, den die folgende Frage wie eine Leitkategorie durchzieht: Wer ist es wert, gerettet zu werden?
Dies mag zunächst radikal klingen, für Katrin Bederna muss sich eine zeitgemäße Theologie allerdings der mit dieser Frage verbundenen Aufgabe offenen Auges stellen: „Gemäß einem gängigen theologischen Topos widerspricht ein derart apokalyptisches Szenario dem Evangelium (also der Frohen Botschaft) und einem Verständnis von Glauben als Vertrauen. Das ist allerdings zu schlicht vom Handeln Gottes und zu harmlos vom Kreuz gedacht: Es gibt für Glaubende keineswegs die Sicherheit auf einen guten Ausgang oder die Pflicht zum Optimismus, wohl aber die Pflicht, die Rettung der anderen einzuklagen und anzustreben.“2
Grundlage dafür, dass es überhaupt so weit kommen konnte, dass die Einwirkung des Menschlichen auf den Planeten Erde und die ihn umgebende Atmosphäre irreversibel ist, ist eine anthropologische Wende, in deren Folge sich Menschen als dem nichtmenschlichen Leben gegenüberstehend begreifen. Doch: Wie kann eine Re-Situierung in das Ko-Habitat aller Schöpfung gelingen?
Anthropozentrismus und Anthropos: Eine Frage der Priorität
„Anthropozentrismus“ ist ein komplexer Begriff. Geistesgeschichtlich beschreibt er das Verständnis, dass menschliches Leben im Zentrum steht, um welches herum und zu dessen Gunsten sich nicht-menschliches Leben verhält bzw. in ein Verhältnis gesetzt wird. So verstanden ist „Anthropozentrismus“ kritikwürdig und dekonstruktionsbedürftig. So verstanden kann eine Kritik nicht umhin, die Wurzeln dieses Verständnisses zu adressieren – und diese liegen im westlichen Christentum.
„Anthropozentrismus“ kann aber auch als Standpunktbeschreibung fungieren. Gemeint ist also jene Perspektive, mit der Menschen Welt begegnen. Als die, die wir sind, steht uns nur ein menschlicher Weltzugang zur Verfügung. Spirituelle Übung und rationaler Perspektivwechsel können dazu führen, diesen menschlichen Standpunkt zu relativieren und uns in die Perspektive eines anderen Geschöpfes einzuüben – übernehmen könnten wir diese niemals. Unser Weltzugang als Anthropos ist also ein anthropozentrischer. So verstanden beschreibt Anthropozentrismus einen Zustand, der zwar reflektiert, wohl aber kaum revidiert werden kann.
Ich unterscheide noch eine dritte Bedeutung von „Anthropozentrismus“, die an die erste anschließt, und genauer mit „Androzentrismus“ oder „Nord-West-Androzentrismus“ zu bezeichnen wäre. In dieser Spielart verlässt „Anthropozentrismus“ eine rein deskriptive Ebene; der Bezug auf diesen Terminus ist ein politisch-kritischer. Das Nicht-Menschliche, das im ersten Fall noch für das Menschliche vor- und zuhanden begriffen wird und deshalb als daseinsberechtigt (an)erkannt wird, wird hier um das Nicht-Männliche erweitert. Der Anthropos, der hier im Zentrum steht, ist der Mann, genauer der weiße, heterosexuelle Mann des Globalen Nordens. Letztere Dimension verschleiert der Begriff des „Anthropozentrismus“ vielfach, weshalb er aus rassismuskritischer sowie gendersensibler Perspektive genauer differenziert werden muss. Denn „Anthropozentrismus“ vermittelt stillschweigend den Eindruck, als ob es so etwas wie „den Anthropos“ gäbe und dieser – weil Mensch – in gleicher Weise vom Nicht-Menschlichen „profitiere“ oder aber dieses „ausbeute“. „Anthropozentrismus“ verschleiert damit aber, dass sich Ausbeutungs-, Macht- und Unterdrückungsverhältnisse nicht nur entlang der installierten Grenze von „Mensch“ zu „Nicht-Mensch“, sondern vielmehr quer hierzu verhalten. Anthropos ist weder ein rein biologischer noch ein neutraler Begriff.
Anthropozentrismus-Kritik: Eine notwendige Aufgabe einer Theologie des Lebens
„Keine einzige ethnische oder nationale Gruppe hat alle Antworten, aber alle Gruppen haben etwas zur Heilung der Erde beizutragen.“ (James H. Cone)
Anthropozentrismus-Kritik stellt die Annahme, dass es unveränderbare, gesetzte oder natürliche Grenzen innerhalb der Spezies Mensch sowie zwischen Spezies gäbe, infrage, und zwar vor dem Hintergrund der Folgen, die eine solche Annahme zeitigt.
Mit anderen Worten: Anthropozentrismus-Kritik thematisiert, ausgehend von der Erfahrung des massiven Zerstörungspotenzials von Menschlichem, die Rolle des Menschen im Gesamt des Lebens theologisch gesprochen: im Gesamt der sichtbaren (und unsichtbaren) Schöpfung. Für die US-amerikanische Theologin Cynthia Moe-Lobeda geht es dabei um „The Paradox of the Human“:
„Das Paradoxon der menschlichen Spezies verblüfft. Wir sind zu unvorstellbarer Schönheit, Kreativität und Güte fähig, bringen aber auch unaussprechliche Brutalität hervor. Nun ist die Spezies, die Musik zur Heilung der Seele erschafft, die ihr Leben riskiert, um andere zu retten, die durch Lachen und Mitgefühl pure Freude hervorruft und die so viel mehr Gutes und Schönes hervorbringt, darauf aus, die empfindlichen Bedingungen zu zerstören, die für den Fortbestand des Lebens, wie wir es kennen, auf der Erde notwendig sind.“3
In seinem bahnbrechenden Aufsatz „The Historical Roots of Our Ecological Crisis“ , den man auch als Parforce-Ritt durch die Geschichte der Menschheit seit der Antike bezeichnen könnte, stellt der US-amerikanische Mediävist Lynn White – und dies bereits 1967! – heraus, dass die Vorstellung, die nicht-menschliche Schöpfung sei eine zugunsten und für den Menschen bestehende, sich erstens erst seit dem Mittelalter derart manifestiert habe und zweitens das westliche Christentum für diesen Prozess primär verantwortlich sei. Whites Position lässt sich mit diesen drei Thesen zusammenfassen: 1. „Besonders in seiner westlichen Form ist das Christentum die anthropozentrischste Religion, die die Welt je gesehen hat.“, 2. „Wenn ja, dann trägt das Christentum eine große Schuld.“ 3. „Da die Wurzeln unserer Probleme weitgehend religiös sind, muss auch das Heilmittel im Wesentlichen religiös sein, ob wir es nun so nennen oder nicht.“4
Hierin vertritt White die These, dass technologischer und (natur-)wissenschaftlicher Fortschritt unter okzidentaler Vorherrschaft stünden. Errungenschaften des Orients und der Welt fernab des Westens und des Christentums haben im Laufe der Zeit – und sei es durch ihre Übersetzung ausschließlich in die lateinische Sprache – zunächst einen westlichen Anstrich bekommen, bevor sie von einer westlichen Deutung überlagert und letztlich absorbiert wurden. Dies sei, so White, lange vor der Wissenschaftlichen oder Industriellen Revolution der Fall gewesen und habe sich spätestens im Mittelalter durchgesetzt und habe somit Erkenntnisse anderer Kulturen, Religionen, Sprachräume verdrängt bzw. vereinnahmt. Als Beispiel nennt White u. a. den Kalender aus dem 9. Jh. n. Chr.. Während frühere Kalender die Jahreszeiten und Monate in personifizierter Form darstellten, zeigen bereits Kalender des frühen Mittelalters einzig den Menschen als handelndes Subjekt: den Menschen, der sät, erntet, harkt, schlachtet. White hält fest: „Mensch und Natur sind zwei Dinge, und der Mensch ist der Herr“5 und ergänzt: „Diese Neuerungen scheinen im Einklang mit größeren Denkmustern zu stehen. Was die Menschen in Bezug auf ihre Ökologie tun, hängt davon ab, was sie über sich selbst im Verhältnis zu den Dingen um sie herum denken. Die menschliche Ökologie ist zutiefst von den Annahmen über unsere Natur und unser Schicksal geprägt – das heißt, von der Religion.“6
Zunächst einmal sieht White die in der biblischen Schöpfungserzählung beschriebene Erschaffung des Menschen als Ebenbild Gottes als Initiation (oder Ausdruck) eines dualistischen Denkens, das „den Menschen“ näher an Gott und damit scheinbar weiter von „der Natur“ wegrückt. Neuere theologische Ansätze weiten den Imago Dei-Gedanken auf die nicht-menschliche Schöpfung aus und deuten ihn primär als Ausdruck der Gott-Schöpfungs-Beziehung. Dennoch, anders als in den meisten asiatischen Religionen stabilisiert sich im Christentum ein Mensch-Natur-Dualismus, den White als Ursache für die diagnostizierte Ausbeutung des Nichtmenschlichen ausmacht. Damit ist ebenfalls eine Distanz zur griechischen Antike auszumachen, in der jedes Element der Natur eine spirituelle Kraft verkörperte bzw. als mit dieser ausgestattet begriffen wurde. Jene galt es zu befragen oder gar zu besänftigen, bevor der Mensch in Kontakt mit dem Baum, den er fällen wollte (um nur ein Beispiel zu nennen), trat. Was einst als Errungenschaft galt – die Verdrängung des paganen Animismus durch das Christentum –, bildete die religiös-kulturelle Basis für einen ausbeuterischen Zugriff auf eine entspiritualisierte, entseelte oder zumindest minderbeseelte nicht-menschliche Schöpfung. Die im Animismus auftretende Vorstellung, dass die Schöpfung eine beseelte sei, wirkte lange als Schutz vor dem Menschlichen. Die Hemmschwelle fiel mit dem Christentum.
„Geistvergessenheit“ und „GeistBewusstsein“: Über einen christlichen Animismus
White geht noch einen Schritt weiter und fragt, ob es nicht plausibel wäre anzunehmen, dass die spirituellen Kräfte, die einst – im Animismus – in den Pflanzen, Tieren, Steinen und Winden lebten, durch die Heiligen, Engel und Dämonen der späteren christlichen Kirchen ersetzt wurden.
Dabei scheint mir Whites Überlegung keineswegs trivial. Zwar kann man einerseits sagen, dass die Vorstellung, es gäbe außerhalb des Menschen noch etwas Beseeltes – wie die Geistkräfte in den Heiligen – die Position des Menschen zumindest relativiere; andererseits sind diese Heiligen, Engel und Dämonen eben nicht – anders als die belebte Natur – innerweltlich verortet und verkörpert. Wenn das Christentum wirklich in der Verantwortung steht, eine derartige Ent-Seelung der nicht-menschlichen Schöpfung vorgenommen zu haben, dann wundert es nicht, dass die Folge in einer Ent-Subjektivierung des Nicht-Menschlichen bestand. Das, was übrigblieb, waren das Subjekt Mensch und das Objekt Nicht-Mensch. Menschen waren und sind es, die entschieden haben, dass das NichtMenschliche zum Anderen wird, dass es „entschieden anders“ ist. Schöpfungssensible Theolog*innen wie der US-amerikanische Theologe und Teilhard de Chardin-Forscher Thomas Berry erheben hier Einspruch: „Das Universum ist nicht eine Ansammlung von Objekten, sondern eine Gemeinschaft von Subjekten.“7
An dieser Stelle ist jedoch auch Kritik angebracht: So kompakt Whites Rundumschlag zur Geschichte „des Christentums“ ist, so pauschal ist er. Aus kritisch-postkolonialer Perspektive muss klargestellt werden, dass es „das Christentum“ nicht gibt und White Gefahr läuft, jene durch die gesamte Geschichte des Christentums bis heute existierenden schöpfungssensiblen Strömungen unsichtbar zu machen. Gerade in Teilen der Erde, in denen indigene Religionen überlebt haben, zeigt sich das Christentum häufig nicht derart naturvergessen. Was White zurecht kritisiert, ist ein besonders in Europa und den USA dominant gewordenes Christentum. Was er damit aber verkennt, ist das ebenso existente Christentum, das den ganzheitlichen Blick auf das Leben noch nicht verloren hat.
Obgleich eine derart pauschale Einschätzung „des Christentums“ kritisiert werden muss, lassen sich zumindest deutliche Tendenzen im nordwestlichen Christentum nicht leugnen. Zu einem ähnlichen Urteil kommt auch der systematische Theologe Gregor Taxacher im Kapitel „Alles nur Natur? Zum Problem der Anthropozentrik“, wo es heißt: „Eine Grundrichtung abendländischen, zugespitzt dann neuzeitlichen Denkens lässt alles hier beginnen, bei der Erkenntnis, welche alles zum Objekt macht.“8 Taxacher geht einen Schritt weiter und meint, dass mit Blick in eine Zukunft der Künstlichen Intelligenz und Robotik eine so noch nie dagewesene Verdinglichung prophezeit werden könne.
Taxacher beklagt die Geistvergessenheit und ruft dazu auf, das Potential eines „christlichen Animismus“ oder auch einer „ökologischen Pneumatologie“ (neu) zu erkunden. Er macht darauf aufmerksam, dass es der Hauch des Lebens, Ruach, Gottes Geist, ist, der die Seele (anima) mit Kraft versorgt und die gesamte Schöpfung durchwirkt. Die Immanenz des Göttlichen beseelt die Schöpfung. Ich verweise hierzu auf den Beitrag „Christlicher Animismus? Zur Theologie franziskanischer Tierbeziehung“9 von Gregor Taxacher, in dem er Franz von Assisi als einen „Animist in einer analogistischen Welt“10 ausweist, auf den ich aus Kapazitätsgründen leider nicht weiter eingehen kann.
Interessant ist nun, dass White hinsichtlich der religiösen Deutung der Schöpfung einen eklatanten Unterschied zwischen westlichem und östlichem (bes. griechischem) Christentum ausmacht: Während der technologische Fortschritt des Westens in die Erfolgsgeschichte der lateinischen Kirche inkorporiert wurde, ging es der Ostkirche – zumindest nach der Entdeckung des Feuers als Kriegswaffe im 7. Jh. – nicht mehr in gleichem Maße um Technologisierung, was als Indiz für eine langsamere Entfremdung von Mensch und Nicht-Menschlichem gelesen werden könnte. Auch im Sündenverständnis sieht White einen Unterschied: Das Sündenverständnis der Ostkirche sei jenes der „intellectual blindness“, Erlösung demnach „Erleuchtung/Erkenntnis“ (illumination). Das Sündenverständnis der Westkirche begreife Sünde als „moral evil“, Erlösung bestehe also in rechter Lebensführung. Er kommt zu folgendem Urteil, welches ich im Hinblick auf seine anthropologischen Folgen reflektieren möchte: „Die östliche Theologie war intellektualistisch. Die westliche Theologie war voluntaristisch. Der griechische Heilige kontempliert, der westliche Heilige agiert. Die Implikationen des Christentums für die Eroberung der Natur treten in der westlichen Atmosphäre leichter zutage.“11
Diese von White 1967 geäußerte These scheint mir nicht uninteressant für die Frage nach der Verantwortung dominant gewordener Strömungen der christlichen Tradition für die zunehmende Abwertung nichtmenschlichen Lebens und die Vergessenheit nicht-menschlichen Lebens in den christlichen (oder westlich-christlichen) Theologien. Und zwar nicht (nur) vor dem Hintergrund des Ausfindigmachens von Schuldigen, etwa um sie zur Verantwortung zu ziehen, sondern in erster Linie, um herauszufinden, wo wir theologiegeschichtlich falsch abgebogen sind. Und, um zu erkunden, welche unbeachteten Strömungen es innerchristlich gab und nach wie vor gibt, deren Gewicht man womöglich stärken und deren Erfahrung man integrieren müsste. Denn eines scheint offensichtlich: a) wir sind falsch abgebogen und b) die Theologie, die hierzu geführt hat, kann nicht die Theologie sein, die uns hier herausführt.
Planetarische Solidarität in postkolonialer Perspektive
An dieser Stelle muss offenbleiben, inwiefern eine Re-Lektüre der Kirchenväter und Kirchenlehrer hilfreich ist, um jene Theologie zu entwickeln, die wachsam ist hinsichtlich Abwertungs- und Ausbeutungslogiken; die um eine gerechte Teilhabe aller ringt. Eine entschieden andere Theologie ist also eine, die sich vom Anderen her versteht, sich von diesem in Anspruch nehmen lässt und die ihr Eigenes nicht durch Abgrenzungs- und Abwertungsmechanismen konstruiert. Kann eine weiße Theologie dies wirklich leisten? Kann uns der Monolog der Etablierten aus diesem Dilemma herausführen?, fragt der US-amerikanische Theologe und Bürgerrechtler James Cone in seinem Aufsatz „Whose Earth Is lt, Anway?“12. Seit wann kann das Problem die Lösung sein? Cone zeigt deutlich, dass es nicht darum geht, sich darum zu bemühen, auch nicht-weiße Stimmen zu Wort kommen zu lassen. Es geht darum, a priori davon auszugehen, dass diese einen essentiellen Beitrag zu einer anderen Theologie leisten können. Um zu fragen, wie eine Theologie der Unterdrückung zu ändern wäre, sollten wir nicht die Unterdrücker*innen, sondern die Unterdrückten fragen. Cone bringt es auf den Punkt:
„Haben wir Grund zu der Annahme, dass die Kultur, die am meisten für die ökologische Krise verantwortlich ist, auch die moralischen und intellektuellen Quellen für die Befreiung der Erde liefern wird? Weiße Ethiker und Theologen scheinen das zu glauben, denn ein Großteil ihres Diskurses über Theologie und die Erde ist nur ein Gespräch unter sich. Aber ich habe ein tiefes Misstrauen gegenüber den theologischen und ethischen Werten der weißen Kultur und Religion. Fünf Jahrhunderte lang haben Weiße so getan, als gehörten ihnen die Ressourcen der Welt, und sie haben farbige Menschen gezwungen, ihre wissenschaftlichen und ethischen Werte zu akzeptieren. People of Color haben die herrschenden Theologien und Ethiken studiert, weil unser physisches und spirituelles Überleben davon abhing. Jetzt, da die Menschheit vom Aussterben bedroht ist, sollte man meinen, dass eine kritische Bewertung dessen, wie wir dorthin gekommen sind, wo wir jetzt sind, der nächste Schritt für sensible und fürsorgliche Theolog*innen auf der Erde sein sollte.“13
Dass es nicht einfach um ein Come-Back der Urkirche gehen kann, ist ebenfalls klar. Taxacher bringt dies sehr eindrücklich auf den Punkt, indem er verdeutlicht, dass wir uns im Anthropozän befinden (egal, wie wir uns zu diesem positionieren). Dabei behauptet Taxacher nicht nur die Unhintergehbarkeit des Anthropozentrismus, sondern gar die Notwendigkeit desselben, um uns für andere einsetzen zu können. Zur Verdeutlichung greift er auf das Beispiel der Tierrechte zurück (das Beispiel ließe sich aber beliebig übertragen): Damit Tierrechte eingefordert und eingehalten werden, braucht es vor allem eins: uns Menschen. Wir sind es, die sich den Tieren gegenüber so sehr verpflichtet fühlen können, dass wir ihnen Rechte zusprechen. Es ist unsere Fähigkeit des Hineinversetzens in andere (eine Fähigkeit übrigens, die keinesfalls nur dem Menschen zukommt), es ist unser Verantwortungsbewusstsein, unsere Möglichkeit der Folgenabschätzung und die Fähigkeit zur Moral, die Taxacher als Voraussetzung für ein derartiges Sein-für-Andere versteht. Dennoch möchte ich zurückfragen: Wie kommen wir überhaupt auf die Idee, dass nur wir Rechte hätten? Kann es als Errungenschaft des Anthropozentrismus gewertet werden, die Lebensrechte anderer einzufordern und zu artikulieren?
Es ist ein tragisches Paradoxon, dass sich die Kolonialherr*innen nun dafür einsetzen, den Kolonialisierten eine Stimme zu verleihen. Um mit Gayatri Chakravorty Spivaks Terminus zu sprechen, könnte man hier die Tiere als die „subalterns“ bezeichnen. In bester Absicht verleihen Tierrechtler*innen ihnen eine Stimme, aber doch nur, weil Menschen zuvor und andauernd darauf verzichten, auf die eigene Stimme der Tiere zu hören. Es ist ja nicht so, als ob uns die Schreie der Schweine vor der Schlachtung oder die geschundenen, federlosen, abgemagerten Körper des Geflügels nicht schon längst etwas sagen wollten. Die postkoloniale Theologin Jea Sophia Oh spricht davon, dass die gesamte Natur eine vom Menschen kolonialisierte sei. Oh entwickelt ihre These ausgehend von einer postkolonialen Christologie hin zu einem Verständnis von „nature“ als „subaltern“:
„Jesus wurde als mimetischer und politischer Subalterner gekreuzigt, d. h. als Angehöriger einer Gruppe ohne angemessene kulturelle und politische Repräsentation. Seine Worte: „Eli, Eli, lema sabachthani? (Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?) wurden in die Luft gestreut, als stummes Zeichen für die ganz konkrete Machtlosigkeit der Subalternen. Jesus als Subalterner war völlig stumm. […] Die weltliche Souveränität des Kolonisators übt zerstörerische Aktivitäten aus, wie Tötung, Ausgrenzung, Unterdrückung, Ausbeutung, Zwang, Verschmutzung der Umwelt und Zerstörung des Ökosystems. Letzteres wird durch das koreanische Wort jugim (töten) ausgedrückt. Jugim ist nicht der Tod, denn der Tod ist ein Teil des Lebens und existiert immer als notwendiger Aspekt des Lebensprozesses. Vielmehr bezeichnet jugim die Gesamtheit der Aktivitäten eines Anti-Lebens, ein Paket sozialer Pathologie. Im Gegensatz dazu bedeutet der koreanische Begriff salim, Dinge lebendig zu machen, wiederherzustellen und zu beleben. Ist das Kreuz nur ein Zeichen für jugim? Oder kann das Kreuz ein Zeichen für salim werden?“14
Kritischer Anthropozentrismus und kritischer Speziesismus
Ich möchte auf Taxachers Definition des Anthropozentrismus zurückkommen: Seine Rede vom Anthropozentrismus bleibt nicht unkritisch. Anthropozentrismus bedeutet für ihn nicht, den Menschen in den Mittelpunkt aller Überlegungen zu stellen bzw. das Recht auf ein gutes Leben des Menschen vor dem der nicht-menschlichen Existenzen zu priorisieren. Es bedeutet für ihn schlichtweg eine Unhintergehbarkeit oder eine Nicht Überschreitbarkeit der menschlichen Perspektive: „Jede ökologische Ethik und Spiritualität, die wir hoffentlich ausbilden werden, bleibt in diesem Sinne eine anthropozentrische Ethik und Spiritualität … nicht weil sie den Menschen rigoros in den Mittelpunkt aller Ansprüche stellen würde, sondern weil sie Ethik und Spiritualität von uns Menschen ist.“15 Ich möchte einen weiteren Aspekt ergänzen: Ähnlich wie die obigen Andeutungen zu alternativen Begriffen zum Anthropozän gibt es Bestrebungen, das Inden-Mittelpunkt-Stellen des Menschen, einen Hybris-Anthropozentrismus also, zu kritisieren, indem man stattdessen eine Renaissance eines Kosmozentrismus, Biozentrismus, Christo- oder Theozentrismus herbeisehnt. Der Kosmos müsse wieder im Mittelpunkt all unserer Überlegungen und Handlungen stehen, das Wohl des Lebens (Bios), nicht allein der Mensch. Theologisch ist selbstverständlich auch ein Christo- oder Theozentrismus attraktiv, der so die Alleinherrschaft des Menschen zu relativieren sucht. Die Herausforderung besteht darin, dass unser In-der-Welt-Sein sich zu einem zutiefst anthropozentrischen entwickelt hat. Dass dies kritisiert werden muss, ist selbstredend. Nun aber das Ergebnis eines andauernden Anthropozentrismus – Ökozid, Sixth Extinction [= das derzeitige sechste große Artensterben, Red.] etc. – wieder dem Kosmos angedeihen zu lassen, käme einer Verweigerung der Verantwortung des Anthropos gleich, so Taxacher, weshalb er von einem „ungemütlichen Humanismus“‚ bzw. „perspektivischen Anthropozentrismus“ spricht:
„Dies ist inzwischen keine sich selbstgewiss am Humanum berauschende Erkenntnis mehr, sondern eher die eines ungemütlichen Humanismus: Wir können, nun da unsere Herrschaft uns selbst bedrohlich geworden ist, nicht die Verantwortung abtreten an die Selbststeuerung des Kosmos. Wir können unser Bewusstsein nicht bedauernd wieder an der Pforte der Natur ablegen, um paradiesische Unschuld zu spielen. In diesem Sinn bleibt Anthropozentrik unhintergehbar, nun im Sinne einer ,kritischen Anthropozentrik‘: nicht als Anspruch, nicht als ein metaphysisches Konzept, sondern als unsere faktische Perspektivität.“16
Was Taxacher hier mit einem „perspektivischen Anthropozentrismus“ ausdrückt, konvergiert mit dem von der theologischen Ethikerin Cornelia Mügge an anderer Stelle vertretenen „schwachen Speziesismus“ [= Diskriminierung von Lebewesen aufgrund ihrer Artzugehörigkeit, Red.]. Zwar sind beide Positionen nicht deckungsgleich, begründen ihren jeweiligen Standpunkt (Anthropozentrismus bzw. Speziesismus) aber beide mit der Notwendigkeit einer Ethik der Verantwortung. Anthropozentrismus und Speziesismus erweisen sich – so verstanden – als zwei Seiten einer Medaille. Sie operieren mit einer Distinktion, die jedoch in der Lesart von Taxacher und Mügge kein Ausbeutungsverhältnis oder eine Verzweckung legitimieren soll, sondern einen Anspruch an den Menschen formuliert. Diese Distinktion artikuliert also kein Recht zur Ausbeutung, sondern eine Verantwortung für die Ko-Kreaturen.
Bedenkt man zudem, dass das, was bisher mit Verantwortung und Verantwortungsethik bezeichnet wird, vor allem eins bedeutet: einen Einsatz für Gerechtigkeit, für eine planetarische Solidarität, für die Anerkennung von Rechten, von Lebensrechten; so könnte dies auch insofern für eine kritische Anthropozentrik sprechen, da womöglich nur in dieser Perspektive (und nicht etwa einer kosmozentrischen) die Verstrickung von Abwertungsmechanismen deutlich werden kann. Worauf ich hinausmöchte, ist die Notwendigkeit, die Abwertung und Ausbeutung nicht-menschlichen Lebens nicht von der Abwertung und Ausbeutung nicht-weißen Lebens zu trennen. Cone ist überzeugt: „Menschen, die gegen die Umweltzerstörung kämpfen, ohne dabei einen disziplinierten und nachhaltigen Kampf gegen die weiße Vorherrschaft zu führen, sind Rassisten – ob sie es zugeben oder nicht. Der Kampf für Gerechtigkeit kann nicht geteilt werden, sondern muss mit dem Kampf für das Leben in all seinen Formen verbunden werden.“17 Beiden, den Kämpfer*innen für die Rechte Schwarzer und den Kämpfer*innen für ökologische Rechte, verdeutlicht Cone, dass es sich nicht um zwei verschiedene Kämpfe handelt, sondern um den einen Kampf um Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung. Die Ausbeutung und Habbarmachung von Körpern und Seelen, sei es von tierlichen Körpern, den Körpern von Frauen, von nicht-weißen, Vertreter*innen anderer Religionen etc. erfordert Widerstand – theologischen Widerstand. Dabei schreien nicht nur die erfahrene Gewalt und das Unrecht zum Himmel, auch die Potenzierung von Leid, die dort geschieht, wo die Armen und das Land ausgebeutet werden, ist alarmierend. Cone verweist auf giftige Müllhalden in den USA und auf dem afrikanischen Kontinent, die jegliches Leben vernichten – und in unmittelbarer Nähe von Bezirken errichtet werden, in denen hauptsächlich Schwarze leben. Benjamin Chavis hat hierfür den Begriff „environmental racism“ [umweltbezogener Rassismus, Red.] geprägt.18
Über die Relationalität einer Anthropozentrismus-kritischen Theologie
Eine Anthropozentrismus-kritische Theologie kann deshalb nur im Dialog und in der Auseinandersetzung mit der gesamten Schöpfung entstehen, niemals feststehen. Wenn sie sich des theologischen Potenzials der Reich-Gottes-Botschaft, der in ihr aufrecht erhaltenen Spannung zwischen Schon und Noch-nicht, den Polen von Absolutheit und Relationalität, Eden und Eschaton, Transzendenz und Immanenz bewusst ist, kann sie darauf verzichten, die Überzeugungskraft ihrer eigenen Argumentation einzig an ihrem Distinktionspotential zu messen. Das heißt, entscheidend ist nicht (mehr), inwiefern sie sich durch ihre Annahmen von anderen abgrenzt, sondern inwiefern sie es schafft, eine Theologie im Angesicht der anderen zu sein, eine Theologie für andere, eine Theologie, die zur Ermächtigung, Subjektivierung und Sichtbarkeit möglichst vieler Entitäten unseres kolonialisierten Planeten beiträgt. Bei dem irischen systematischen Theologen Dermont A. Lane findet sich folgende Formulierung: „Eine andere Möglichkeit, dies zu sagen, besteht darin, von Descartes’ einflussreichem ,Ich denke, also bin ich‘ zu einer Anthropologie überzugehen, die zuallererst anerkennt, dass ,wir sind‘, bevor ,ich bin‘, oder, wie ein afrikanisches Sprichwort es ausdrückt: ,Wir sind verbunden, also bin ich‘.“19
In seiner relationalen Schöpfungstheologie lässt sich Lane deutlich von Papst Franziskus‘ Enzyklika Laudato si’ in Anspruch nehmen. Ich erlaube mir, eine längere Passage aus Laudato si’ zu zitieren:
„240. Die göttlichen Personen sind subsistente Beziehungen, und die Welt, die nach göttlichem Bild erschaffen ist, ist ein Gewebe von Beziehungen. Die Geschöpfe streben auf Gott zu, und jedes Lebewesen hat seinerseits die Eigenschaft, auf etwas anderes zuzustreben, so dass wir innerhalb des Universums eine Vielzahl von ständigen Beziehungen finden können, die auf geheimnisvolle Weise ineinandergreifen. Das lädt uns nicht nur ein, die vielfältigen Verbindungen zu bewundern, die unter den Geschöpfen bestehen, sondern führt uns dahin, einen Schlüssel zu unserer eigenen Verwirklichung zu entdecken. Denn die menschliche Person wächst, reift und heiligt sich zunehmend in dem Maß, in dem sie in Beziehung tritt, wenn sie aus sich selbst herausgeht, um in Gemeinschaft mit Gott, mit den anderen und mit allen Geschöpfen zu leben. So übernimmt sie in ihr eigenes Dasein jene trinitarische Dynamik, die Gott dem Menschen seit seiner Erschaffung eingeprägt hat. Alles ist miteinander verbunden, und das lädt uns ein, eine Spiritualität der globalen Solidarität heranreifen zu lassen, die aus dem Geheimnis der Dreifaltigkeit entspringt.“20
Dies bedeutet allerdings nicht nur trinitätstheologisch, sondern auch inkarnationstheologisch neu anzusetzen. Der Gedanke, dass Gott sich nur im Menschen (noch dazu im Mann) inkarniert hat, ist für eine Anthropozentrismus-kritische Theologie abwegig. Nicht nur hinsichtlich des Offenbarungsgehaltes, der an den lnkarnationsbegriff geknüpft ist (jedoch über diesen hinausgeht), ist es notwendig, die FleischWerdung Gottes als eine solche neu in den Blick zu nehmen. Überhaupt ist zu fragen, wie von Inkarnation so gesprochen werden kann, dass diese den Verwobenheiten, der „interconnectedness“ [„Untereinander-Vernetztheit“ Red.] des Planeten gerecht wird. Jea Sophia Oh greift den von Catherine Keller entworfenen Begriff der „intercarnation“ auf: „Alles Leben ist miteinander verwoben. Dieser verflochtene Planetenkörper als Ganzes ist die Inkarnation Christi, die Keller ,Interkarnation‘ nennt. Interkarnation ist das, was wir immer wieder kreuzigen. […] Indem wir das Saatgut und die Erde ruinieren, kreuzigen wir den Leib Gottes.“21
Die zu Beginn gestellte Frage: Wer ist es wert, gerettet zu werden? kann umgekehrt auch heißen: Wann hören wir auf zu kreuzigen? Für die Theologie bedeutet dies, die Augen zu öffnen und die schmerzhaften Kreuzigungen in den Mittelpunkt ihrer Reflexion zu stellen. Und: ihren theologischen Beitrag zu einem Verlernen des Kreuzigens zum entscheidenden Qualitätsmerkmal zu machen.
ANMERKUNGEN
1 Vgl. Elizabeth Kalbert: The Sixth Extinction. An Unnatural History, New York u. a. 2015.
2 Katrin Bederna, Every Day for Future. Theologie und religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung, Ostfildern 2029, 91–92, Hervorhebung im Original.
3 Cynthia Moe-Lobeda, Love Incarnate: Hope and Moral-Spiritual Power for Climate Justice, in: Kiara A. Jorgenson, Alan G. Padgett (Hg.), Ecotheology. A Christian Conversation, Grand Rapids 2020, 67–105, hier 69.
4 Lynn White, The Historical Roots of Our Ecological Crisis, in: Science, 155 (1967), 1203–1207; siehe www.cmu.ca/faculty/ lynnwhiterootsofcrisis.pdf (aufgerufen am 26.12.2020).
5 Ebd.
6 Ebd.
7 Thomas Berry, Evening Thoughts. Reflecting on Earth as a Sacred community, San Francisco 2006, 17–18.
8 Gregor Taxacher, Alles nur Natur? Zum Problem der Anthropozentrik; in: Simone Horstmann, Thomas Ruster, Gregor Taxacher (Hg.), Alles, was atmet. Eine Theologie der Tiere, Regensburg 2018, 3l–45, hier 31.
9 Ders., Christlicher Animismus? Zur Theologie franziskanischer Tierbeziehung; in: Horstmann, Ruster, Taxacher (Hg.), Alles, was atmet, 292–306.
10 Taxacher, Christlicher Animismus?, 299.
11 White, The Historical Roots.
12 Cone, Whose Earth Is It, Anvwav?, in: Terence Ball u. a. (Hg.), Ideals and Ideologies. A Reader, New York 2019, 495–502.
13 Ebd.
14 Jea Sophia Oh, Seeds, Cross, and a Paradox of Life from Death: A Postcolonial Eco-Christology; in: Grace Ji-Sun Kim, Hilda P. Koster (Hg.), Planetary Solidarity. Global Women‘s Voices on Christian Doctrine and Climate Justice, Minneapolis 2017, 207–217, hier 210 (Hervorhebungen im Original).
15 Taxacher, Alles nur Natur?, 35.
16 Taxacher, Alles nur Natur?, 35.
17 Cone, Whose Earth ls lt, Anyway?, 138.
18 Ebd., 140.
19 Lane, Theology and Ecology in Dialogue, 41.
20 Franziskus, Laudato si՚ (2015); vgl. Lane, Theology and Ecology in Dialogue, 48.
21 Oh, Seeds, Cross, 216 (Binnenzitat aus Keller, Cloud of the Impossible, 308).
QUELLE
Leicht gekürzte Fassung der Erstpublikation: Julia Enxing, Entschieden anders?!, Anthropozentrismus-kritische Impulse für eine multispeziessensible Schöpfungstheologie in: Ökumenische Rundschau 70 (3/2021) 300–317; mit freundlicher Genehmigung der Evangelischen Verlagsanstalt GmbH.
ZUR PERSON
Julia ENXING ist Professorin für Systematische Theologie (katholisch) an der TU Dresden. Ihr Anliegen ist die Überwindung der Diskrepanz zwischen gedachter und gelebter Theologie, die, um am Puls der Zeit zu bleiben, auch flexibel sein muss. Dementsprechend wechseln bisweilen ihre Forschungsschwerpunkte und liegen aktuell im Bereich der theologischen Schöpfungslehre und der theologischen (und philosophischen) Anthropologie sowie der Tier-Theologie. Seit 2022 ist Julia Enxing Sprecherin bei „Wort zum Sonntag“ (ARD) und wurde 2023 mit dem Herbert Haag-Preis ausgezeichnet.