Evolutionstheologie des Anthropozäns
Die christliche Vorstellung der Schöpfung wurde nach langem Streit durch Teilhard de Chardin1 mit der Evolutionstheorie versöhnt: Gott hat zur Schöpfung des Lebens die Evolution als Werkzeug benutzt. Mögliche Konsequenzen für den christlichen Glauben wurden bereits analysiert. Schöpfung durch Evolution bedeutet beispielsweise, dass ein paradiesischer Urzustand (Gen 1) niemals existiert hat. Die im Tierreich bekannten Aggressionen sowie das Recht des Stärkeren wurden an die ersten Menschen übertragen und waren schon im Prozess der Schöpfung Teil ihrer Sozietät. Dies sollte später zum Problem werden und kann daher als Erblast gelten2 – zum Unterschied vom kirchlichen Konzept der Erbsünde (KKK, 404).
Die Andersartigkeit des Menschen besteht im Intellekt. Er kann damit die Wirklichkeit sprachlich beschreiben und proaktive Handlungen planen. Dies steigert seine Macht auf ein Vielfaches. Allerdings, Gott hat zwar den Intellekt (lokalisiert im Großhirn) eingehaucht, nicht aber gleichzeitig die tierischen Teile des Gehirns (etwa das Stammhirn) ‚hinausgeblasen‘: Es steuert weiterhin Triebe und Emotionen, und diese wirken massiv auf das Großhirn: „Der Wunsch ist Vater des Gedankens“. Leider ist die umgekehrte Signalrichtung (vom Großhirn zum Stammhirn) mager ausgebildet, und unser Wollen ist deswegen viel schwerer durch Rationales zu steuern als umgekehrt (Röm 8,3-9; Mt 6,5; 26,41; Spr 24,16 etc.). Will das Stammhirn Positives, baut der Intellekt Traktoren, OP-Säle und Flugzeuge. Will das Stammhirn Negatives, schmiedet der Intellekt Intrigen oder Waffen. Es heißt auch: „Der Intellekt ist Hure der Wünsche“, wie auch im Homo Deus dargestellt3.
Zur Zeit Moses fiel dem Schöpfer anscheinend negativ auf, dass der Intellekt nicht nur Positives bewirkte, sondern auch massives Leid. Gott gab Moses 10 Gebote für sein Volk. Anscheinend reichte dies nicht, und so sandte Gott seinen Sohn (Röm 4) als Erlöser! Dieser ergänzte den Dekalog durch Bergpredigt, Seligpreisungen (Mt 5) und lehrreiche Gleichnisse. Jesus kannte anscheinend die inhärente Problematik des Schöpfungsmechanismus („shit happens in evolution“), nahm darauf Bezug (Lk 16,1-9; 15,1; Mk 4,3; Mt 25,14), konnte aber damals die evolutionären Hintergründe nicht klarlegen.
Die Botschaft Jesu kann für Christen als ausführliche Anleitung verstanden werden, die Macht des Stammhirns zu domestizieren, und Christen bemühen sich seit 2000 Jahren darum. Jesus wusste, wie schwierig es sein würde und versprach zur Unterstützung den Heiligen Geist (Joh 14,26).
Bis etwa 1960 bewirkte der Intellekt ungeahnte Fortschritte in Gesundheit, Lebenserwartung und Wohlstand für viele. Nichts davon wurde hinterfragt. Randbedingungen (Dekalog und die Botschaft Jesu) waren nur für soziale und politische Punkte erforderlich.
Seit dem Club of Rome4 ist jedoch klar, dass nicht nur der Mensch vor der Natur geschützt werden muss, sondern auch umgekehrt. Christen könnten sich ein Gebot 4a wünschen: „Du sollst Vater und Mutter ehren sowie deine Umwelt schonen, …“. Zur Zeit Moses noch ein unverständlicher Gedanke, seit dem Club of Rome aber Grund genug für den Begriff ‚Anthropozän‘. Jüngst hat das International Panel for Climate Change (IPCC)5 untermauert, dass insbesondere die Defossilisierung der Industrie und Energieversorgung unabdingbar sind. Die Früchte des Intellekts brauchen mehr Kontrolle! Schon wieder ein rationales Konzept ‚vom Großhirn fürs Großhirn‘! Es richtet sich direkt gegen die Impulse des Stammhirns: „Stärker, schneller, weiter“ (Ssw). Wie soll das gezähmt werden?
Papst Franziskus hat in laudato si‘ das fehlende Gebot 4a trefflich ergänzt und die christliche Botschaft zur Verantwortung auf die heutige Sachlage zugeschnitten, allerdings nur in Form von Zielen und Geboten. Wie und durch wen könnte die Umsetzung gesichert werden? Das Stammhirn möchte weiterhin Ssw, und lässt den Intellekt Zweifel erzeugen an den IPCC Berichten. Hätten die Zweifler recht, müssten wir fast gar nichts tun – das Stammhirn könnte weiter ungehindert Gas geben! Stimmen allerdings die Vorhersagen des IPCC, ist es allerhöchste Zeit für eine Wende, insbesondere auch für verantwortungsvolle Christen. Wie könnten sie ein positives Vorbild werden? Könnte die moderne Kirche den Kurs des Anthropozäns zu korrigieren helfen? Dies würde sie an einem weltwichtigen Punkt positionieren.
ANMERKUNGEN
1 Teilhard de Chardin, P. 1959. Der Mensch im Kosmos, München, C.H. Beck.
2 Schreiner, W. 2013. Göttliches Spiel / Evolutionstheologie, Wien, Holzhausen.
3 Harari, Y. N. & Wirthensohn, A. 2017. Homo Deus: Eine Geschichte von Morgen, München, Beck.
4 Meadows, D. H. 1972. The Limits to Growth, Penguin Group (USA) Incorporated.
5 https://www.ipcc.ch/report/ar6/wg2/ downloads
ZUR PERSON
Wolfgang SCHREINER, bis 2022 Professor für Medizinische Informatik an der MedUni Wien, sucht in seinen Vorträgen und Publikationen neue Verbindungen von Naturwissenschaft und Theologie.