Der Verein der FREUNDE der THEOLOGISCHEN KURSE sieht es als seine Aufgabe, die THEOLOGISCHEN KURSE in ihrer Arbeit zu unterstützen.
Foto: CC BY-SA 3.0 DE | Müller-May
Erschienen in: theologie aktuell | Ausgabe 1- Jahrgang 2024/25
Da für Fromm die Praxis von Vernunft und Liebe der Inbegriff gelingenden Lebens ist, soll hier einleitend gefragt werden, welche Bedeutung die Liebe in seinem eigenen Leben hatte. Dem Autor von Die Kunst des Liebens ist die Fähigkeit, lieben zu können, nicht in den Schoß gefallen, im Gegenteil. Bis weit in seine Lebensmitte hinein galt auch für ihn, was er in diesem Buch schreibt: Es gibt „kaum ein Unterfangen, das mit so ungeheuren Hoffnungen und Erwartungen begonnen wurde und das mit einer solchen Regelmäßigkeit fehlschlägt wie die Liebe“. (1956a, GA IX, S. 441.)
Es gibt viele Gründe – ganz individuelle, aber auch gesellschaftlich bedingte – warum die eigene Liebesfähigkeit begrenzt oder gar zum Scheitern verurteilt ist. Von besonderer Bedeutung ist für jeden Menschen die Art der Liebe, die von Mutter und Vater vorgelebt wurde. Denn sie kann die Entwicklung der eigenen Liebesfähigkeit beflügeln oder lähmen. Richten wir also einen Blick auf die mütterliche und väterliche Liebe, die die Kindheit und Jugend Fromms prägte. (Zu biografischen Details vgl. Funk, 1983 und 2011; Hardeck, 2005; Friedman, 2013.)
Fromms Vater, Naphtali, war zum Zeitpunkt von Erichs Geburt 30 Jahre alt. Von Beruf war er Beerenweinhändler und eben kein jüdischer Theologe wie viele seiner Vorfahren. Eher ängstlich und stark an die Kleinfamilie gebunden, litt er wegen seines Berufs unter Minderwertigkeitsgefühlen. Er setzte alle Hoffnungen darauf, dass sein Sohn die Reihe der Talmudgelehrten fortsetzen werde. Seine Liebe zu Erich war eine Mischung aus zärtlicher Zuwendung (wie Fotos belegen, die den 12- und 13-jährigen Erich auf dem Schoß des Vaters sitzend zeigen), ängstlicher Fürsorglichkeit (Erich durfte im Winter oft nicht das Haus verlassen, weil er sich draußen hätte erkälten können) und einer sehr ambivalenten Idealisierung. Als der begabte Student im Promotionsverfahren sein Rigorosum an der Universität von Heidelberg machte, war der Vater davon überzeugt, dass sein Sohn durch die Prüfung fallen und sich dann umbringen würde.
Fromms Mutter war 24 Jahre alt, als er geboren wurde. Sie kam aus einem weniger frommen Haus als der Vater und galt in ihrer Verwandtschaft (und anders, als er sie selbst später wahrnahm) als lustige und gesellige Frau, die in ihrer Familie den Ton angab. Auch hier sagen Fotos mehr als die spärlichen Aussagen von Fromm über die Art der Liebe aus, die die Mutter dem Sohn entgegenbrachte. (Zu den Fotos vgl. meine Erich Fromm Bild-biographie: Funk, 2011; zur Frage der Liebe im Leben Fromms vgl. ausführlicher Funk, 2006.) So zeigt ein Foto Mutter und Sohn am Rande eines Sees in einem Park. Mit der rechten Hand ergreift die Mutter die Schulter des etwa 10-jährigen Jungen und drückt ihn fest an ihren Busen. Gleichzeitig stützt sie ihren linken Arm in einer Siegerpose auf ihre Hüfte. Hier wird eine sehr zupackende und festhaltende Mutterliebe sichtbar, die es dem Sohn – zumal dem einzigen Kind – nicht leicht machte, sich von ihr zu lösen.
Ein Familienfoto zeigt, wie sehr die Mutter den Sohn bewunderte. Erich ist etwa 17 Jahre alt und gleich groß wie der Vater. Wie der Vater so hält auch der Sohn in der Hand einen Spazierstock und einen Hut – Attribute des bürgerlichen Mannes der Zeit. Der Vater blickt in die Kamera, der Sohn schweift mit den Augen in die Ferne. Zwischen beiden aber steht die Mutter. Mit ihrem rechten Arm beim Sohn eingehakt richtet sie ihren Blick – voller Erwartung und bewundernd zugleich – auf sein Gesicht. Wie Fromm selbst später bekannte, wollte die Mutter, dass er ein großer Künstler und Wissenschaftler werden sollte, ein zweiter Paderewski. Dieser war damals ein gefeierter Komponist, Pianist und polnischer Politiker, der 1919 sogar für kurze Zeit Ministerpräsident war.
Niemand bekommt eine solche narzisstische Aufwertung umsonst, auch Erich Fromm nicht. Sie ist an eine bewundernde Umgebung geknüpft, weshalb sie kein autonomes und von anderen unabhängiges Selbstwerterleben ermöglicht. Tatsächlich hatte Fromm lange damit zu kämpfen, von dieser festhaltenden und ihn idealisierenden Mutterliebe los zu kommen.
Auch wenn die Liebesfähigkeit eines jungen Menschen im allgemeinen von der durch Mutter und Vater vorgelebten Liebe geprägt ist, so bestimmen die Eltern doch nicht allein die Entwicklung seiner Liebesfähigkeit. Das Streben nach Unabhängigkeit und Autonomie und eine eigene liebende Aktivität prägen jede psychische Entwicklung von Geburt an mit. Beim Erwachsenwerden drückt sich dieses Streben in der Suche nach Menschen aus, die andere Liebeserfahrungen möglich machen. Je nachdem, wie behindernd und die Eigenentwicklung störend sich dabei die Liebe von Mutter und Vater auswirkt, führt eine solche Suche nach neuen und alternativen Liebeserfahrungen dann doch wieder zu Beziehungen, in denen die bekannten elterlichen Beziehungsmuster wiederkehren.
Oft muss eine ganze Reihe scheiternder Liebesbeziehungen durchlebt werden, bis man bereit ist, im Partner nicht mehr unbewusst die in Wirklichkeit klein und abhängig haltende Liebe der Mutter und des Vaters wiederzufinden. Auch ist dieser verspätete Prozess der Ent-Bindung von der mütterlichen und väterlichen Liebe im allgemeinen mit leidvollen Verzicht- und Verlusterfahrungen verknüpft. Bei allen Enttäuschungen und Schmerzen, die mit der Aufgabe von Elternbindungen einhergehen – entscheidend ist letztlich, ob der Wunsch, selbst lieben zu können, fortbesteht. Denn, so sagt Fromm an anderer Stelle: „Wer sich entschließt, ein Problem mit Liebe zu lösen, braucht den Mut, Enttäuschung auszuhalten und trotz Rückschlägen geduldig zu bleiben.“ (1967e, GA XI, S. 343 f.) Ein solcher, ungebrochener Wunsch, lieben zu können, lässt sich im Leben Fromms trotz scheiternder Beziehungen bis weit in die Lebensmitte nachzeichnen.
Die seine Liebesfähigkeit einschränkende Vaterliebe überwand Fromm relativ leicht. Er suchte sich bereits als Jugendlicher in Rabbiner Nehemia Nobel von der Frankfurter Synagoge am Börneplatz eine andere, nämlich religiös gebildete Vaterfigur. Nobel war in gewisser Hinsicht auch ein Gegenentwurf zu Fromms überängstlichem Vater. Denn in der Ängstlichkeit und Minderwertigkeit des Vaters spiegelten sich Gesellschafts-Charakterzüge, die für die Mehrheit der Juden damals typisch war. Nobel aber war ein selbstbewusster Prediger und Zionist, unter dessen Einfluss Fromm auch für kurze Zeit einer zionistischen Jugendorganisation angehörte. Eine noch eindrucksvollere, weil ganz autonom lebende Vaterfigur war, wie bereits gezeigt wurde, Salman Baruch Rabinkow in Heidelberg. Rabinkow und die Psychoanalyse Freuds ermöglichten Fromm den Weg in die eigene Autonomie, Vernunftfähigkeit und kreative Wissenschaftlichkeit.
Die Trennungsversuche von der ihn bewundernden Mutterliebe waren langwieriger und um vieles leidvoller. Zweifellos war der Hintergrund für die Heirat der elf Jahre älteren Frieda Reichmann im Jahre 1926 eine therapeutische Übertragungsliebe und suchte er in Frieda eine andere ihn bewundernde Mutter zu finden. Doch seine Tuberkuloseerkrankung im Jahr 1931 sorgte dafür, dass Fromm faktisch von Frieda getrennt war.
Noch während seines Aufenthalts in Davos lernte er die um 15 Jahre ältere Psychoanalytikern Karen Horney näher kennen. Nach seiner Emigration nach New York im Jahr 1934 entwickelte sich die Bekanntschaft zu einer Beziehung, die zwar nie zur Heirat führte, aber doch sehr über das gemeinsame fachliche Interesse hinausging. Wenn immer Fromm von New York aus Reisen unternahm, war Karen Horney mit ihm unterwegs. Beide vertraten ein revidiertes Verständnis von Psychoanalyse. Allerdings war Karen Horney eine ehrgeizige Partnerin und die Beziehung nie ganz frei von Rivalität. Die Liaison mit Karen Horney währte bis 1943 und ging in einem heftigen Streit zu Ende, der auch zu einer Spaltung der bisher gemeinsam geführten psychoanalytischen Gesellschaft führte.
Einige Zeit nach dem Bruch mit Karen Horney lernte Fromm die gleichaltrige Henny Gurland kennen, die mit Walter Benjamin vor den Nazis aus Frankreich geflohen war und an der spanischen Grenze miterlebte, wie sich Benjamin das Leben nahm. Fromm heiratete die in Deutschland geborene gelernte Zeitungsfotografin im Jahr 1944. Endlich schien Fromm die Frau seines Lebens gefunden zu haben. Mit ihr zusammen baute er 1947 in Bennington in Vermont ein eigenes Haus.
Kaum waren sie in das neue Haus eingezogen, wurde Henny mit einer unerklärlichen Erkrankung bettlägerig. Zunächst vermutete man eine Bleivergiftung, dann wurde eine äußerst schmerzhafte arthritische Erkrankung diagnostiziert. Fromm sagte alle Termine ab, um Henny zu pflegen und sie nicht allein zu lassen. Aus Liebe zu ihr siedelte er 1950 mit ihr nach Mexiko über. Das dortige Klima sollte die Schmerzen der inzwischen von Opiaten abhängigen Frau lindern helfen.
Fromm baute sich in Mexiko-Stadt eine neue Existenz auf. Er begann 1951 eine Gruppe von Medizinern zu Psychoanalytikern auszubilden und erhielt eine feste Professur an der Universität. Allerdings vereitelte Hennys Erkrankung jeden Plan, seinen Lehraufträgen und Vortragseinladungen in den Vereinigten Staaten nachzukommen. Er konnte sie nicht mitnehmen und wollte sie nicht allein lassen. Er tat alles für sie, orientierte sein Leben ganz an der Sorge um sie – ohne dass sich dadurch ihr Leiden gebessert hätte. Die Situation steigerte sich ins Unerträgliche. Im Juni 1952 fand er Henny tot im Badezimmer.
Fromm war am Ende mit seinen Liebesversuchen. Er spürte nur noch Scheitern, Ohnmacht und Verlassenheit. Es war ein furchtbar leidvoller und mühsamer Weg, sich von einem Selbstbild zu lösen, das sich an der bewundernden Mutterliebe orientierte und zu einer Fürsorglichkeit verführte, die ihn in die Abhängigkeitserkrankung von Henny einband. Hennys Tod zwang ihn, seine eigene Begrenztheit, ja sein eigenes Scheitern zu akzeptieren.
Monate später fand Fromm wieder den Mut, eine neue Beziehung einzugehen. Erstmals war es eine Amerikanerin, Annis Freeman aus Alabama. Annis war Witwe, sie hatte drei Ehemänner durch Tod verloren. Mit ihrem letzten Mann hatte sie in Indien gelebt, war aber nach dessen Tod in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt. Diese Frau war anders als alle Frauen, mit denen Fromm bisher zu tun hatte. Sie war sehr attraktiv, sinnlich, ohne beruflichen Ehrgeiz, aber doch eine ebenbürtige Gesprächspartnerin. Fromm verliebte sich in sie und heiratete sie im Dezember 1953. Sie zog zu ihm nach Mexiko. Nach ihren Plänen bauten sie ein Haus in Cuernavaca, in dem sie von 1956 bis 1973 lebten. Sie begleitete ihn bei seinen monatelangen Aufenthalten in den USA und später in Europa und stützte sein Engagement in der US-amerikanischen Politik, bei der Abrüstungs- und Friedensbewegung.
Fromm hatte mit dem ohnmächtigen Abschied von Henny und der Liebe zu Annis jene Liebesfähigkeit gefunden, die von den kindlichen Bindungen befreit war und eine direkte Begegnung ermöglichte. Erst jetzt konnte seine Praxis der Liebesfähigkeit mit seiner Theorie der Liebe auch tatsächlich übereinstimmen und das Buch Die Kunst des Liebens geschrieben werden, das 1956 auf den Markt kam. Erst jetzt galt auch für ihn selbst, was er in diesem Buch schrieb:
„Ob Harmonie waltet oder ob es Konflikte gibt, ob Freude oder Traurigkeit herrscht, ist nur von sekundärer Bedeutung gegenüber der grundlegenden Tatsache, dass zwei Menschen sich vom Wesen ihres Seins her erleben, dass sie miteinander eins sind, indem sie mit sich selbst eins sind, anstatt vor sich selber auf der Flucht zu sein.“ (1956a, GA IX, S. 501.)
Die Frage, was den Menschen gelingen lässt, ist bei Fromm fest mit der Frage verknüpft, was für den Menschen gut ist. Dass jemand erfolgreich ist oder zu Geld und Macht kommt, ist noch kein Indiz dafür, dass ein solches Gelingen auch für das psychische Wohlergehen dieses Menschen und für das Gemeinwohl gut ist.
So gibt es Charakterorientierungen – wie etwa den Zwangscharakter –, mit denen die betreffenden Menschen ganz gut zu leben glauben, obwohl sie in ihren seelischen Möglichkeiten massiv beeinträchtigt sind, weil sie immer auf „Nummer Sicher“ gehen und mit ihren Zwangshandlungen eine sie existenziell bedrohende Angst bekämpfen müssen. Auch gibt es Gesellschafts-Charakterorientierungen, die einen Menschen im Berufsleben oder in der Politik top-erfolgreich machen, seelisch aber immer depressiver und lebloser werden lassen oder gar „ausbrennen“. Weder das subjektive Gefühl gelingenden Lebens noch das gesellschaftliche Gelingen können deshalb, jeweils für sich genommen, als Maßstab dienen. Lässt sich dann überhaupt noch ein gemeinsamer Maßstab für das finden, was für den Menschen gut ist und ihn deshalb gelingen lässt?
Nach Fromm kann ein solcher gefunden werden. Um das Ergebnis hier vorwegzunehmen: In psychologischer Perspektive ist der Maßstab für das, was für den Menschen gut ist und sowohl sein psychisches Wohl-Sein als auch das Gemein-Wohl befördert, der Erhalt seiner psychischen Wachstumsfähigkeit. (Diese liegt dem Konzept der „produktiven Orientierung“, der „Biophilie“ und der „Orientierung am Sein“ zugrunde und zeichnet diese Konzepte aus.)
Um den Maßstab der psychischen Wachstumsfähigkeit zu finden und zu begründen, muss man allerdings grundsätzlicher fragen und die Situation des Menschen vor und unabhängig von seiner Geprägtheit durch bestimmte gesellschaftliche Erfordernisse in den Blick nehmen. Man muss nach den Existenzbedingungen des Menschen fragen und dabei jene spezifisch menschlichen Bedürfnisse mit einbeziehen, die ihn – trotz vieler Gemeinsamkeiten – vom Tier unterscheiden.
Der Maßstab lässt sich dann darin finden, was den Menschen überhaupt (und nicht eine bestimmte Gesellschaft) bei der Befriedigung seiner existenziellen Bedürfnisse wachsen oder verkümmern lässt. Um Fromm selbst zu Wort kommen zu lassen:
„Das Kriterium für die seelische Gesundheit (ist) nicht, dass der Einzelne an eine bestimmte Gesellschaftsordnung angepasst ist, sondern es handelt sich um ein universales, für alle Menschen gültiges Kriterium, dass sie nämlich für das Problem der menschlichen Existenz eine befriedigende Antwort finden.“ (1955a, GA IV, S. 14.)
Fromm argumentiert mit dem Begriff der menschlichen Existenz, womit er meint, als dass alle Menschen nicht nur bestimmte körperliche Bedürfnisse (wie zu essen, zu trinken und zu schlafen) befriedigen müssen, sondern immer auch besondere, nur dem Menschen eigene psychische Bedürfnisse, die er, weil sie zum existenziell Notwendigen beim Menschen zählen, auch „existenzielle Bedürfnisse“ nennt. Solche sind nach Fromm das Bedürfnis nach Bezogenheit, nach Verwurzelung, nach einem Identitätserleben, nach Transzendenz und das Bedürfnis nach einem Rahmen der Orientierung und nach einem Objekt der Hingabe. Diese Bedürfnisse müssen von jedem Menschen in allen Kulturen immer befriedigt werden. Dabei stehen dem Menschen zahlreiche Möglichkeiten der Befriedigung zur Verfügung. (Vgl. 1955a, GA IV, S. 24-50, sowie 1973a, GA VII, S. 207-219.)
Die verschiedenen existenziellen Bedürfnisse sagen noch wenig inhaltlich darüber aus, wie sie zu befriedigen sind. Aber sie machen deutlich, dass es den Menschen Psycho-logisch gesehen nicht anders gibt, als dass er auf die Wirklichkeit, auf sich und auf andere bezogen ist; dass er sich einer sozialen Gruppe zugehörig erleben muss; dass er ein Bild und ein Wertesystem von dem, wer er ist und wer er sein möchte bzw. nicht sein möchte, entwickeln muss; dass er ein unabdingbares Bedürfnis hat, seine jeweilige Vorfindlichkeit zu übersteigen und selbstwirksam sein möchte; auch ist es ihm ein existenzielles Bedürfnis, sich der Sinnfrage zu stellen, indem er sich einen religiösen, spirituellen oder weltbildhaften Orientierungsrahmen schafft und sich für etwas Sinnvolles engagiert.
Dies alles sind existenzielle Notwendigkeiten, um überhaupt als Mensch leben, das heißt, gelingen zu können. So wie das Existieren des Menschen von körperlichen Notwendigkeiten abhängt, nämlich sich zu ernähren, zu schlafen oder sich fortzupflanzen, so gibt es auch psychische Notwendigkeiten, die gebieterisch nach Befriedigung verlangen, weil es den Menschen nicht anders als mit solchen psychischen Bedürfnissen ausgestattet gibt. (Fromms Theorie der existenziellen psychischen Bedürfnisse stellt deshalb seine „Triebtheorie“ dar; sie grenzt sich deutlich von den verschiedenen Triebtheorien Sigmund Freuds ab, weil sie die Biologie des Menschen nicht in einer instinktiven Ausstattung des Menschen verankert, sondern in seiner neurobiologisch bedingten Gestaltungsnotwendigkeit und Gestaltungsmöglichkeit seines Welt- und Selbstbezugs.)
Mit der Tatsache, dass diese psychischen Bedürfnisse von allen Menschen befriedigt werden müssen, um individuell und gesellschaftlich zu gelingen, ist die Frage noch nicht beantwortet, wie sie befriedigt werden müssen. Erst die Frage nach dem Wie kann Auskunft geben, was für den Menschen gut ist, weil „für das Problem der menschlichen Existenz eine befriedigende Antwort“ (1955a, GA IV, S. 14) gefunden wurde. Das Spektrum der Möglichkeiten ist enorm groß. So sind ganz unterschiedliche Antworten zum Beispiel auf das Bedürfnis nach Bezogenheit möglich: eine aggressive, entwertende, rivalisierende oder wertschätzende, liebende, fürsorgliche oder eine bemutternde, vereinnahmende, missbrauchende usw. Jede dieser Antworten ist möglich, doch jede hat unterschiedliche Wirkungen im Blick auf die psychische Wachstumsfähigkeit und seelische Gesundheit des Menschen.
Die entscheidende Frage lautet deshalb: Welche Bedürfnisbefriedigungen sind der Wachstumsfähigkeit und seelischen Gesundheit förderlich und welche sind ihr abträglich? So zu fragen, macht allerdings nur unter der Voraussetzung Sinn, dass es im Menschen etwas gibt, was es ihm erstrebenswert erscheinen lässt, seine seelische Gesundheit zu fördern und alles zu vermeiden, was dieser abträglich ist. Lässt sich im Menschen selbst eine „Anlage“ ausmachen, die ihn dazu disponiert, tendenziell das zu realisieren, was für ihn gut und deshalb seiner seelischen Gesundheit förderlich ist?
Noch bevor Neurobiologen Spiegelneuronen entdeckt und im Gehirn das „Prinzip Menschlichkeit“ und die Empathiefähigkeit ausgemacht haben (vgl. etwa Bauer, 2005, 2006, 2008; Hüther, 1999), auch lange bevor die Säuglingsforschung nachweisen konnte, dass der Mensch bereits von Geburt an im Stande ist, in aktiver Weise auf seine Umwelt bezogen zu sein (vgl. etwa Dornes, 1993 und 2006), sprach Fromm von einer primären inneren Tendenz allen Lebens, auch des menschlichen, die eigenen Wachstumskräfte zu entwickeln und zu entfalten.
Die primäre innere Tendenz ist ein intrinsisches Vermögen, das allem Lebendigen gemeinsam ist, nämlich die eigenen Wachstumsmöglichkeiten zur Entfaltung und Integration zu bringen und nach Möglichkeit gegenläufige Kräfte abzuwehren. „Die primäre Potenzialität entwickelt sich, wenn die entsprechenden Lebensbedingungen vorhanden sind, genau wie ein Same nur gedeiht, wenn die richtige Feuchtigkeit, Temperatur usw. vorhanden ist.“ (1964a, GA II, S. 189.)
Mit „primär“ verbindet Fromm – anders als Freud mit seiner Theorie der Gleichursprünglichkeit von Lebens- und Todestrieb – die Vorstellung, dass erst die Behinderung oder Vereitelung der primären inneren Tendenz die „sekundäre“ Potenz in Erscheinung treten lässt. Diese nimmt Gestalt an, wenn die primäre Tendenz durch gegenläufige äußere Einflüsse und gesellschaftliche Anforderungen oder durch traumatische Lebensumstände übertönt wird, so dass Menschen dazu gebracht werden, ihre psychischen Bedürfnisse in einer Weise zu befriedigen, die sie seelisch krank macht.
Der Vergleich mit dem Körper und einer körperlichen Verwundung ist durchaus hilfreich: Der Körper wächst und entwickelt seine in ihm steckenden Möglichkeiten – wenn möglich ungehindert. Kommt es zu einer Verletzung, so hängt die weitere körperliche Entwicklung vom Grad der Verletzung ab. Es gibt Verletzungen, die unsichtbar verheilen; andere hinterlassen Narben und Entstellungen; ganz schwere Verletzungen können die Abwehr und die Gesundungsdynamik so nachhaltig beschädigen, dass es zu negativen Reaktionen und Folgeerkrankungen kommt.
Eine ähnliche Dynamik gibt es auch im Psychischen, nur dass hier die Verletzungs- und Störungsmöglichkeiten der primären Tendenz ungleich vielfältiger und häufiger sind und es eine viel größere Abhängigkeit von der prägenden Umwelt und deren Befriedigungsangeboten für die psychischen Bedürfnisse gibt. Wenn Menschen unter Bedingungen leben, die „den Grunderfordernissen menschlichen Wachstums und seelischer Gesundheit zuwiderlaufen“, dann kann ein Mensch „nicht anders, als darauf zu reagieren“. (1955a, GA IV, S. 18.)
Solche Reaktionen können Versuche sein, die primäre Tendenz zu schützen und ihr wieder Geltung zu verschaffen. Fromm spricht von einem „humanistischen Gewissen“ (1947a, GA II, S. 101-109) als einer „Re-Aktion unseres Selbst auf uns selbst“, das uns zurückruft, „zu dem zu werden, was wir unserer Möglichkeit nach sind“. Die Reaktionen können aber auch zur Stärkung der sekundären Tendenz beitragen und zu Apathie, mangelnder Initiative, Hass und Destruktivität führen bzw. zu Regressionen und Fixierungen auf frühere Entwicklungsstufen. In welcher Weise sich die sekundäre Tendenz auch äußert, sie ist für Fromm immer die Folge einer nicht realisierten, weil behinderten oder vereitelten primären Tendenz.
Dass auf Abhängigkeit zielende, zerstörerische oder selbstsüchtige Kräfte im Menschen Reaktionen auf vereitelte primäre Tendenzen zu wachsen und ganz zu werden sind, hat weit reichende Konsequenzen für den Umgang mit diesen Reaktionen. Wenn „Destruktivität (die) notwendige Folge verhinderten Wachstums“ (1976a, GA II, S. 391) ist und „der Grad der Destruktivität proportional zu dem Ausmaß (ist), in dem die Entfaltung der menschlichen Möglichkeiten blockiert ist“ (1947a, GA II, S. 136), dann kann destruktives Verhalten nicht dadurch überwunden werden, dass es verboten, verdrängt, abgewehrt wird, sondern dass ihm der Nährboden entzogen wird, indem die äußeren und inneren Hindernisse abgebaut werden, die die Entfaltung der menschlichen Möglichkeiten blockieren.
Fragen wir näher nach, was unter der primären Tendenz, die eigenen Wachstumsmöglichkeiten zur Entfaltung und Integration zu bringen, genauer zu verstehen ist. Jedes lebende Wesen strebt primär nach Wachstum und Integration seiner spezifischen Möglichkeiten. Was aber heißt dies für den Menschen angesichts seiner existenziellen Bedürfnisse?
Der Mensch hat die Möglichkeit, sein Leben mit Hilfe fremder, ihm nicht zugehörender Kräfte zu gestalten und also fremdbestimmt seine körperlichen, geistigen und psychischen Bedürfnisse zu befriedigen. Statt zu Fuß zu gehen, kann er Auto fahren; statt sich selbst Gedanken zu machen, kann er einen Ratgeber zu Hilfe ziehen. Statt seine handwerklichen Fähigkeiten zu üben, kann er das Gewünschte kaufen; statt sein Leben selbst zu verantworten und zu gestalten, kann er sich an den Erwartungen der Eltern orientieren oder an den Sinnangeboten der Eventkultur; statt selbst zu lieben, kann er geliebt werden wollen. Der Mensch hat aber auch die Möglichkeit, seine eigenen Kräfte zu gebrauchen. Tut er dies, dann beobachtet er, dass diese mehr und stärker werden, also wachsen. Gebraucht er hingegen für den Vollzug seines Lebens fremde Kräfte, dann macht er die Erfahrung, dass er diese aufbraucht. Und er spürt gleichzeitig, dass der Gebrauch fremder Kräfte statt der eigenen die eigenen Kräfte weniger werden lässt.
Die wachstumsorientierten Eigenkräfte können geistig-spiritueller, psychischer oder körperlicher Art sein. Eine geistige Eigenkraft ist zum Beispiel die Merkfähigkeit, die Denkfähigkeit oder die Fantasie. Psychische Eigenkräfte sind etwa die Fähigkeit zu vertrauen, zärtlich zu sein, sich konzentrieren zu können, interessiert zu sein, lieben zu können. Eine körperliche Eigenkraft ist zum Beispiel die Fortbewegungsfähigkeit oder die Muskelkraft.
Während die körperlichen Eigenkräfte sich durch das physische Wachstum und den Lebensvollzug im Wesentlichen von alleine entwickeln, bedürfen die psychischen und geistig-spirituellen Möglichkeiten einer aktivierenden Stimulation, um ihre Aktivität zu entfalten, das heißt als Eigenkraft zum Vorschein zu kommen und schließlich zur Verfügung zu stehen. Neurobiologische Untersuchungen und beobachtende Säuglingsforschung stützen gleichermaßen die Annahme, dass die psychischen und geistigen Eigenkräfte bereits dann eine Eigenaktivität (Selbsttätigkeit) zeigen, wenn sie von der mütterlichen Bezugsperson aufgenommen, wahrgenommen, mitgetragen, befriedigt, gespiegelt werden, das heißt, wenn sie sich in einer zugewandten und tragenden emotionalen Bindung ausdrücken können (vgl. Peter Fonagys Konzept der „Mentalisierung“: Fonagy et al., 2004).
Wenn auch die psychischen und geistig-spirituellen Eigenkräfte für ihre Entstehung noch andere Voraussetzungen haben als die körperlichen Eigenkräfte, so haben alle Eigenkräfte doch eines gemeinsam: Sie wachsen und stehen als Eigenkräfte nur in dem Maße zur Verfügung, als sie praktiziert werden. Dies lässt sich an der körperlichen Muskelkraft besonders eindrücklich veranschaulichen: Wer seinen Arm oder sein Bein für einige Wochen in Gips hatte und die Muskeln nicht mehr trainieren konnte, der verliert diese körperliche Eigenkraft und muss sie erst mühsam und meist schmerzvoll wieder erlernen, indem er die Muskeln bewegt und trainiert und also diese Eigenkraft praktiziert.
Gleiches gilt für geistige Eigenkräfte. Wer etwa seine Merkfähigkeit nicht trainiert und gebraucht, sondern jedes und alles, was er sich merken muss, auf einen Zettel schreibt, wird sich immer weniger merken können. Und wer seine Fähigkeit zu fantasieren nicht mehr praktiziert, wird immer fantasieloser – etwa wenn er statt sein Vorstellungsvermögen zu trainieren, indem er ein Buch liest, lieber einen Film sieht, der die vielfältigen Imaginations-Möglichkeiten, die das Buch bietet, auf eine reduziert und diese eine Visualisierung sich vorgeben lässt.
In gleicher Weise gilt auch für alle psychischen Eigenkräfte, dass sie nur in dem Maße wachsen und als Eigenkräfte zur Verfügung stehen, als sie praktiziert werden. Die Fähigkeit zu lieben, hängt eben gerade nicht davon ab, dass man geliebt wird, sondern von der eigenen Praxis der Liebe: Nur wer von sich aus auf jemand anderen einen Schritt zugeht und emotional „hinüberwächst“, wird liebesfähig. Nur wer Akte des Vertrauens setzt und sich auf jemanden oder etwas einlassen kann, entwickelt die Fähigkeit des Vertrauens. Und nur wer sich traut, zärtlich zu sein und eine absichtslose Nähe zu praktizieren, ist zärtlich, das heißt, für den wird Zärtlichkeit zu seiner Eigenschaft oder Eigentümlichkeit. Wer auf eigenen Füßen stehen möchte und selbstbestimmt leben möchte, wird dies nur tun können, wenn er Schritte in Richtung Unabhängigkeit macht und Autonomie praktiziert.
Soll die primäre Tendenz zum Zug kommen, müssen gerade die spezifisch menschlichen Eigenkräfte, also seine geistigen und psychischen Wachstumspotenziale praktiziert werden. Nur so können sie ihre wachstumsfördernde Qualität entfalten und zu einer je höheren und differenzierteren Entwicklung des Menschen-Möglichen beitragen.
Fromm hat im Laufe seines Lebens verschiedene Versuche gemacht, die Besonderheit wachstumsorientierter menschlicher Eigenkräfte, das heißt, die psychische Wachstumsfähigkeit als entscheidendes Kriterium für das, was für den Menschen gut ist, begrifflich zu fassen (vgl. hierzu ausführlicher Funk, 2003a).
Erste Versuche finden sich in seinem Buch Die Furcht vor der Freiheit (1941a, GA I). Hier diente ihm der Begriff der Spontaneität zur Qualifizierung der Eigenkräfte als Wachstumskräfte des Selbst. Alles, was aus eigenem Antrieb (sua sponte) geschieht, über-windet Fremdbestimmtheit. Die primäre Tendenz artikuliert sich in „spontanem Tätigsein“ als Tätigsein aus eigenem Antrieb. „Denn das Selbst ist stark genau in dem Maße, wie es aktiv-tätig ist.“ (1941a, GA I, S. 370.) Bereits sechs Jahre später führte Fromm in seinem Buch Psychoanalyse und Ethik den für sein Werk zentralen Begriff der „produktiven Orientierung“ („productive orientation“) ein und definierte: „Produktivität ist die Realisierung der dem Menschen eigenen Möglichkeiten, also der Gebrauch der eigenen Kräfte.“ (1947a, GA II, S. 56-71, hier S. 59.) Dabei verstand Fromm den – im Deutschen weniger treffenden – Begriff „produktiv“ von seinem lateinischen Ursprung (pro-ducere) her als das, was der Mensch aus seinen eigenen, spezifisch menschlichen Kräften „hervor-führt“. Im Blick auf die drei wichtigsten menschlichen Äußerungsmöglichkeiten konkretisierte er die produktiven Eigenkräfte auch als „Vernunft“ (produktives Denken), „Liebe“ (produktives Fühlen) und „Kreativität“ (produktives Handeln). Bevorzugt sprach er auch einfach von den „Eigenkräften Vernunft und Liebe“.
Im Zusammenhang mit der Erörterung der existenziellen Bedürfnisse des Menschen, die, wenn auch auf unterschiedlichste Weise, aber doch immer befriedigt werden müssen, definierte Fromm Produktivität als seelische Gesundheit und reife Entwicklung. „Seelische Gesundheit ist gekennzeichnet durch die Fähigkeit zu lieben und etwas zu schaffen“ (Bedürfnis nach Bezogenheit), „durch die Loslösung von den inzestuösen Bindungen an Klan und Boden“ (Bedürfnis nach Verwurzelung), „durch ein Identitätserleben, das sich auf die Erfahrung seiner selbst als dem Subjekt und dem Urheber der eigenen Kräfte gründet“ (Bedürfnis nach einem Identitätserleben), „durch das Begreifen der Realität innerhalb und außerhalb von uns selbst, das heißt durch die Entwicklung von Objektivität und Vernunft“ (Bedürfnis nach einem Rahmen der Orientierung und nach einem Objekt der Hingabe) (1955a, GA IV, S. 52).
Die Frage von Wachstum und Verfall rückte neu ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit, als Fromm 1964 in seinem Buch Die Seele des Menschen zwischen einem psychischen „Wachstumssyndrom“ und „Verfallssyndrom“ unterschied (1964a, GA II, S. 238 f.) und die wachstumsorientierten Eigenkräfte als biophile Orientierung oder Biophilie (im Gegensatz zur Nekrophilie) kennzeichnete.
„Vereinigung und integriertes Wachstum sind für alle Lebensprozesse charakteristisch, und dies trifft nicht nur für die Zellen zu, sondern auch für das Fühlen und Denken. (...) Wer das Leben liebt, fühlt sich vom Lebens- und Wachstumsprozess in allen Bereichen angezogen.“ (1964a, GA II, S. 185 f.)
Das Konzept der Biophilie signalisiert in Fromms Denken eine markante Veränderung: Der starke Anthropozentrismus im bisherigen Denken Fromms erfährt eine Ausweitung auf die (evolutionäre) Dimension des Lebens überhaupt, so dass die Frage, was für den Menschen gut ist, an die allem Lebendigen eigene Wachstumsfähigkeit anknüpft. Die Liebe zum Lebendigen (Biophilie) als psychische Wachstumsfähigkeit hat ihren Grund in der primären Tendenz alles Lebendigen, wachsen und sich entfalten zu wollen (vgl. Funk, 2017c).
In seinem Alterswerk Haben oder Sein (1976a, GA II) definierte Fromm schließlich Produktivität als Orientierung am Sein, wobei er unter „Sein“ das versteht, was an Ei-genkräften im Menschen durch die Praxis dieser Eigenkräfte aus dem Menschen her-vorgeführt werden kann.
„Wir Menschen haben ein angeborenes, tief verwurzeltes Verlangen zu sein: unseren Fähigkeiten Ausdruck zu geben, tätig zu sein, auf andere bezogen zu sein, dem Kerker der Selbstsucht zu entfliehen.“ (Ebd. S. 341.)
Das wesentlichste Merkmal der Orientierung am Sein
„ist die Aktivität, nicht im Sinne von Geschäftigkeit, sondern im Sinne eines inneren Tätigseins, des produktiven Gebrauchs der menschlichen Kräfte. Tätigsein heißt, seinen Anlagen, seinen Talenten, dem Reichtum menschlicher Gaben Ausdruck zu verleihen, mit denen jeder – wenn auch in verschiedenem Maße – ausgestattet ist.“ (Ebd. S. 333.)
Hinsichtlich der Frage, was für den Menschen gut ist und ihn gelingen lässt, hat Fromm zwar verschiedene Begriffe geprägt und benützt, die aber alle von der gleichen Erfahrung sprechen, nämlich der Fähigkeit, aus wachstumsorientierten Eigenkräften zu schöpfen durch die Praxis derselben. Fromm hat diese psychische Wachstumsfähigkeit hinsichtlich Denken, Fühlen und Handeln noch konkretisiert und gezeigt, was er unter dem Charakterzug „produktiver Vernunft“ (Fähigkeit zur vernünftigen Wirklichkeitswahrnehmung), „produktive Liebe“ (Fähigkeit zu liebender Bezogenheit) und „produktive Arbeit“ (Fähigkeit zu schöpferischer Weltgestaltung) versteht. Dies soll noch näher aus-geführt werden.
(1) Produktive Arbeit: „Im Bereich des Handelns drückt sich die produktive Orientierung in produktiver Arbeit, im Prototyp dessen aus, was unter Kunst und Handwerk zu verstehen ist.“ (1955a, GA IV, S. 27.) Produktive Arbeit hat nichts mit Aktivismus und mit Geschäftigkeit zu tun, sondern „drückt sich im rhythmischen Wechsel von Aktivität und Entspannung aus“ (1947a, GA II, S. 71). Ist eine Aktivität durch Angst oder durch irrationale Leidenschaften motiviert und angetrieben, so erfüllt sie nicht die wesentlichen Voraussetzungen von produktiver Arbeit: Diese muss frei und aus eigenem Antrieb (sua sponte) kommen. Auch die einfachsten Handlungen können Vollzugsmöglichkeiten produktiver Arbeit sein.
So wenig die produktive Orientierung beim Arbeiten daran gemessen werden kann, was bei ihr herauskommt, so wenig ist die künstlerische Qualität ein sicheres Indiz für Produktivität. Dort, wo sich die Fähigkeit zu produktivem Handeln mit künstlerischen oder handwerklichen Begabungen mischt, kann es zu sehr eindrucksvollen Dokumentationen produktiver Orientierung kommen. Das entscheidende Kriterium produktiver Arbeit ist aber die Aktivierung der wachstumsorientierten Eigenkräfte und nicht die (heute immer stärker vom Markt her diktierte) künstlerische Qualität.
(2) Produktive Liebe: „Im Bereich des Fühlens kommt die produktive Orientierung in der Liebe zum Ausdruck, die das Erlebnis des Einswerdens mit einem anderen Menschen, mit allen Menschen und mit der Natur bedeutet unter der Voraussetzung, dass man sich dabei sein Integritätsgefühl und seine Unabhängigkeit bewahrt.“ (1955a, GA IV, S. 27.) Auch bei der produktiven Liebe kommt es auf ihre Praxis an. Solange man nur fantasiert, auf jemanden anderen liebend bezogen zu sein und nur in der Vorstellung liebend auf ihn zugeht, geschieht nicht viel. Erst wer liebend ist und „hinüberreicht“ zum anderen, in dem wächst die Fähigkeit zu lieben.
Produktive Liebe lässt sich – unabhängig davon, ob es um die Liebe der Mutter zu ihrem Kind, um die Liebe zur Menschheit, um die erotische Liebe zwischen zwei Menschen, um die Nächstenliebe oder um die Selbstliebe geht – durch folgende Charakterzüge näher kennzeichnen:
Wie bei allen Charakterzügen, so gilt auch bei jenen der produktiven Orientierung, dass sie als solche kein hinreichendes Indiz für eine produktive Orientierung sind. Wer etwa von dem Wunsch zu teilen bestimmt ist, dessen Wollen kann ebenso von einer autoritären, ja selbst von einer narzisstischen Charakterorientierung bestimmt sein. Ob sich in dem Wunsch zu teilen tatsächlich eine produktive Orientierung manifestiert, lässt sich nur an den lebensfördernden oder lebensvernichtenden Wirkungen erkennen, die die Praxis dieses Charakterzugs hervorbringt.
(3) Produktive Vernunft: „Im Bereich des Denkens kommt die produktive Orientierung in der adäquaten Erfassung der Welt durch die Vernunft zum Ausdruck.“ (1955a, GA IV, S. 27.) Mit „Vernunft“ bezeichnet Fromm nicht nur eine verstandesmäßige und intellektuell-geistige Fähigkeit, sondern in erster Linie die psychische Fähigkeit, „vernünftig“ zu sein, das heißt, die Wirklichkeit mit den sinnlichen, kognitiven, geistig-intellektuellen und emotional-affektiven Fähigkeiten unverzerrt und unentstellt wahrnehmen zu können.
Mit der Qualifizierung „unverzerrt und unentstellt“ grenzt Fromm sein Verständnis von Vernunft von einem subjektivistischen oder voluntaristischen Wunschdenken ab. Aber auch mit Rationalismus und instrumenteller Vernunft hat sein Vernunftbegriff nur wenig gemein. Vernunft kennzeichnet nicht das Wissen um das „Know-how“, die Erkenntnis dessen, wie etwas geht, zusammenhängt und funktioniert.
Produktive Vernunft ist vielmehr eine psychische Fähigkeit und bezeichnet eine bestimmte Art, nämlich eine „vernünftige“ Art des Umgangs mit der Wirklichkeit. Auch sie muss praktiziert werden, wenn sie als Fähigkeit bei der Bewältigung unseres Lebens zur Verfügung stehen soll. Sie steht dem Menschen nicht bereits mit der Entwicklung seines Verstandes zur Verfügung. Nur wer je neu versucht, die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie sich ihm zu erkennen gibt, und nicht so, wie er sie sich wünscht bzw. verändern möchte oder wie sie ihm von interessengeleiteten Instanzen und Medien vermittelt wird, erlernt die Fähigkeit des vernünftigen Umgangs mit der Wirklichkeit.
Die Fähigkeit zu einem vernünftigen Umgang mit der Wirklichkeit setzt in einer Medienwelt, die von wunschbestimmten und interessengeleiteten Inszenierungen lebt, voraus, dass Menschen sich darin üben, noch einen eigenen, unmittelbaren Umgang zur Wirklichkeit zu leben, ihr eigenes Urteil zu bilden, ihre eigenen Wahrnehmungen zu machen und gegenüber jeder Art von vermittelter Wirklichkeitswahrnehmung kritisch zu sein (vgl. Funk, 2012f).
Ähnlich wie produktive Liebe lässt sich auch produktive Vernunft durch für sie typische Charakterzüge näher beschreiben:
Versucht der Mensch, die ihm angeborene primäre Wachstumsfähigkeit in die Tat um-zusetzen und seine körperlichen, seelischen und geistigen Wachstumskräfte zu praktizieren, dann werden ihm diese zu Eigenschaften, zu einer produktiven und biophilen Charakterorientierung. Er entwickelt neuronale Netze bzw. psychische Strukturen, die am Sein orientiert sind, die zu einer immer größeren inneren Unabhängigkeit von nicht-eigenen und ich-fremden Kräften (Personen, Beziehungsräumen, Fremdbildern) führen. Er vermag selbständig und aus eigenen Kräften zu denken, zu lieben, zu fühlen, zu fantasieren, zu gestalten, zu handeln.
Anders als bei Freud, für den am Anfang des menschlichen Lebens ein passiver Säugling mit einem „primären Narzissmus“ steht, kommt bei Fromm der Mensch mit der „primären Tendenz“ auf die Welt, aus eigenen Kräften auf die Wirklichkeit bezogen zu sein, und stellt mit seinen motorischen, sensorischen und affektiven Eigenkräften aktiv Beziehung her. Mit der Entwicklung weiterer kognitiver, emotionaler und intellektueller Fähigkeiten vermag er schließlich ein Syndrom von wachstumsorientierten Eigenkräften auszubilden, die „produktiv orientiert“ sind.
Welches Schicksal die primäre Wachstumsfähigkeit beim Kind tatsächlich erleidet, hängt in psychologischer Perspektive weitgehend von den Charakterorientierungen der Bezugspersonen ab. Leben diese aus produktiven Eigenkräften, dann müssen schon sehr traumatische Situationen vorliegen oder Ereignisse stattfinden, die die primäre Tendenz schwächen oder gar in ihr Gegenteil verkehren. Fromms besondere Aufmerksamkeit galt nicht nur den Wachstumspotenzialen im Menschen, sondern in gleicher Weise auch den nicht-produktiven Kräften im Einzelnen, und zwar vor allem jenen, die gesellschaftliche Ursachen haben. Um bei der kindlichen Entwicklung zu bleiben: Auch für ihn galt, dass eigensüchtige, ängstliche, vereinnahmende, festhaltende, entwertende, abhängig machende Bezugspersonen die primäre Tendenz hemmen oder vereiteln können und es dann zur Bildung einer nicht-produktiven Charakterorientierung kommen kann.
Die Fromm vor allem interessierende Frage aber war, welche nicht-produktiven Gesellschafts-Charakterorientierungen in diesen Bezugspersonen am Werk sind und ob sich deren Anteil und Stärke durch Veränderungen bei ihren beruflichen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen, aber auch bei ihren kulturellen, familiären und religiösen Verhältnissen beeinflussen lassen. Eben darum richtete Fromm zugleich sein ganzes Augenmerk auf die Gesellschafts-Charakterorientierungen, die im Dienste des Gelingens einer Gesellschaft stehen.
Sich kritisch mit den destruktiven Seiten von Gesellschaft auseinanderzusetzen und gesellschaftliche Veränderungen anzumahnen, wird gegenwärtig in vielfältiger Weise denunziert: als Pessimismus, Utopismus, Besserwisserei oder Gutmenschentum. Einzig, wenn es um das Dritte Reich und die nationalsozialistische Gesellschaft geht, ist deutliche Distanzierung und Kritik erwünscht, und man getraut sich, die psychischen Auswirkungen dieses „Systems“ zu sehen. Inzwischen gibt es auch eine deutliche Distanzierung von der 68er-Generation, jedoch aus anderen Gründen. Diese traute sich nämlich noch, an der Gesellschaft zu leiden und deshalb Gesellschaft verändern zu wollen. Und genau dies ist in einer Gesellschaft, die vor allem positiv denken und fühlen will und erlebnishungrig ist, nicht erwünscht.
Die Frommsche Kunst des Lebens ist ohne eine kritische Sicht der jeweils vorherrschenden Gesellschafts-Charakterorientierung und der diese stabilisierenden wirtschaftlichen, politischen und sozialen Verhältnisse nicht denkbar. Dies ergibt sich aus seinem psychoanalytischen Ansatz beim vergesellschafteten Menschen und dem historisch immer vorhandenen Widerspruch zwischen dem, was eine Gesellschaft an Charakterorientierungen zu ihrem eigenen Gelingen braucht, und dem, was ein Mensch zu seinem menschlichen Gelingen an anderen Charakterorientierungen benötigt. Dieser Widerspruch ist größer oder kleiner, je nachdem, wie viel produktive Orientierung eine Gesellschaft für ihr eigenes Gelingen zulässt und fördert. Dass Fromm eine so hohe Sensibilität für diesen Widerspruch zeigt, hat sicher auch damit zu tun, dass er die destruktiven Wirkungen dessen, was das Dritte Reich zu seinem Gelingen an Charakterorientierungen brauchte, unmittelbar und auch leidvoll erlebt und mit seinen Studien zum autoritären Charakter erforscht hat.
In einem weiteren Kapitel soll deshalb nach den gegenwärtig stark favorisierten nicht-produktiven Gesellschafts-Charakterorientierungen gefragt und bei ihnen heraus-gefunden werden, welche wachstumsorientierten Eigenkräfte behindert werden – und deshalb wiederentdeckt und gefördert werden müssen.
Auch das folgende Kapitel soll mit einem biografischen Abschnitt eröffnet werden. Er knüpft an der destruktiven Gesellschafts-Charakterorientierung des Nationalsozialismus an und will zeigen, wie Fromm damit umging.
Die Zitate von Fromm sind der von mir herausgegebenen Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden entnommen, die 1999 bei der Deutsche Verlags-Anstalt und beim Deutschen Taschenbuch Verlag veröffentlicht wurde. Die Schriften Fromms werden mit dem in der Gesamtausgabe (GA) benützten Kürzel zitiert. Die Gesamtausgabe erschien 2016 auch als E-Book bei Open Publishing (München). In der E-Book-Ausgabe sind die Seitenwechsel der Gesamtausgabe jeweils eingefügt: [V-205] bedeutet, dass an dieser Stelle S. 205 von Band V der gedruckten Gesamtausgabe beginnt.
Bauer, J., 2005: Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone, Hamburg (Hoffmann und Campe Verlag).
– 2006: Prinzip Menschlichkeit, Warum wir von Natur aus kooperieren, Hamburg (Hoffmann und Campe Verlag).
– 2008: Das kooperative Gen – Abschied vom Darwinismus. Hamburg (Hoffmann und Campe). Dornes, M., 1993: Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen, Frankfurt am Main (Fischer Taschenbuch).
– 2006: Die Seele des Kindes. Entstehung und Entwicklung, Frankfurt am Main (Fischer Taschenbuch).
Fonagy, P., et al. (2004): Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst, Stuttgart (Klett-Cotta).
Friedman, L. J., 2013: Erich Fromm – Die Biografie. Unter Mitarbeit von Anke M. Schreiber, Bern (Huber Verlag).
Fromm, E., 1941a: Die Furcht vor der Freiheit, GA I, S. 215-392 (TB, dtv).
- 1947a: Psychoanalyse und Ethik. Bausteine zu einer humanistischen Charakterologie, GA II, S. 1-157. (TB unter dem Titel Den Menschen verstehen, dtv).
- 1955a: Wege aus einer kranken Gesellschaft, GA IV, S. 1-254 (TB, dtv).
- 1956a: Die Kunst des Liebens, GA IX, S. 437-518 (Printausgaben bei Manesse, dtv und Ull-stein).
- 1962a: Jenseits der Illusionen. Die Bedeutung von Marx und Freud, GA IX, S. 37-155 (TB, dtv).
- 1964a: Die Seele des Menschen. Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen, GA II, S. 159-268 (TB, dtv).
- 1967e: Die Faszination der Gewalt und die Liebe zum Leben, GA XI, S. 339-348.
- 1973a: Anatomie der menschlichen Destruktivität, GA VII (TB, Rowohlt).
- 1976a: Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, GA II, S. 269-414 (TB, dtv).
- 1989a [1974-75]: Vom Haben zum Sein. Wege und Irrwege der Selbsterfahrung, GA XII, S. 393-483 (TB, Ullstein).
Funk, R., 1983: Erich Fromm. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek (Rowohlt Taschenbuch Verlag – Rowohlt Bildmonographie 322).
- 2003a: Was heißt „produktive Orientierung“ bei Erich Fromm?, in: Fromm Forum, Nr. 7 (2003), S. 14-27.
- 2006: „Liebe im Leben von Erich Fromm“. Ein biographisches Nachwort, in: E. Fromm, Die Kunst des Liebens, München (Deutsche Verlags-Anstalt), S. 157-177.
- 2011: Erich Fromm – Liebe zum Leben. Eine Bild-Biographie, München (dtv)
- 2012f: „Was machen die Medien mit dem Menschen? Sozialpsychologische Beobachtungen“, in: Fromm Forum Nr. 16 (2012), S. 25-34.
- 2017c: „Die Bedeutung der Liebe im Werk von Erich Fromm“, in: Fromm Forum Nr. 21 (2017), S. 38-49.
Hardeck, J., 2005: Erich Fromm. Leben und Werk, Darmstadt (Primus Verlag).
Hüther, G., 1999: Die Evolution der Liebe, Göttingen (Sammlung Vandenhoeck).
Quelle: Rainer Funk: "Das Leben selbst ist eine Kunst". Einführung in Leben und Werk von Erich Fromm, Freiburg, Basel, Wien (Herder Verlag) 2018, S. 101-130. Alle Rechte beim Verfasser.